Beste Wetterbedingungen am Samstag in der Lenzerheide
Zuerst einmal vorweg: Ich möchte hier eine Analyse des Swiss Irontrail-Rennens im schweizerischen Graubünden vom vergangenen Wochenende erstellen, um daraus Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen für diesen und ähnliche Wettkämpfe zu ziehen. Ich möchte diese Kritik im Sinne einer konstruktiven Auseinandersetzung verstanden wissen. Es geht mir also nicht, wie selbst in der Wikipedia-Definition zu lesen ist, um die oft umgangssprachlich verwendete Version des reinen Tadels.
Überdies scheinen die Organisatoren durchaus kritikfähig zu sein und haben bereits ihrerseits bestimmte Erkenntnisse erlangt (wie in diesem Interview mit dem Cheforganisator Andrea Tuffli zu lesen ist).
- Punkt: Einen solchen Wettkampf zu organisieren stellt – im Gegensatz zu einem gewöhnlichen Stadtlauf – eine komplexe logistische Meisterleistung dar und sollte nicht unterschätzt werden.
- Punkt: Die Wetterbedingungen betreffen einen solchen Lauf im Hochgebirge deutlich stärker als einen im Flachland. Hieraus ergeben sich besondere Herausforderungen – sowohl an die Organisation, als auch an die Läufer.
- Punkt: Die Streckenmarkierung in hochalpiner Lage muss deutlich gewissenhafter durchgeführt werden, da ein kleiner Wanderpfad schwerer zu erkennen ist, als eine Straße oder ein Forstweg im Flachland.
- Punkt: Da die zwei längeren Distanzen durch die Nacht führten, bedarf es noch weitergehender Vorbereitungen, was die Sichtbarkeit der Streckenmarkierungen im Licht von Stirnlampen betrifft.
- Punkt: Da die Anforderungen an die Wettkämpfer nicht linear steigen, bedarf es einer sehr viel weitergehenderen Vorbereitung, als für einen halben oder ganzen Marathon bzw. kürzere Ultrastrecken.
- Punkt: Diese Herausforderungen wird noch einmal überdurchschnittlich gesteigert durch die ungewöhnlich großen Höhendifferenzen (+10.750 m/-11.975 m).
- Punkt: Hieraus ergeben sich andere Anforderungen an die Vorab-Informationen und die Strukturierung der Erwartungshaltung der Teilnehmer (Stichwort: Selbstüberschätzung).
- Punkt: Je länger, schwieriger und schwerer einschätzbar die äußerlichen Herausforderungen, desto größer sind die Herausforderungen an eine Pflichtausrüstung. Es zeigt sich, dass auch hier nicht auf die Vernunft und Weisheit der Teilnehmer vertraut werden kann, sondern kurz vor dem Start und während des Wettbewerbs Überprüfungen stattfinden müssen.
- Punkt: Hieraus ergeben sich etwaige Pflichten an eine Vorauswahl bzw. Qualifikation der Starter.
- Punkt: Möglicherweise bedarf es gar einer Trennung zwischen Qualifikation und Durchführung, da sich nachvollziehbare Interessenkonflikte ergeben (ein Veranstalter möchter verständlicherweise möglichst viele Starter – aus Sicherheitsgründen sollten jedoch nur wirklich qualifizierte Starter zugelassen werden).
- Punkt: Hieraus ergibt sich die Frage nach einer “ausreichenden” bzw. zielführenden Qualifizierung von Teilnehmern.
Allein hieraus können wir schon sehen, wie schwierig die gesamte Thematik ist (und ich bin mir sicher, dass es weitere wichtige Punkte zu beachten gibt, die ich jetzt, im Zuge dieses Aufschriebs, nicht auf dem Radar habe). Wie im richtigen Leben, nimmt die Komplexität einer Aufgabe eben nicht linear, sondern exponentiell mit den zu beachtenden Punkten zu.
Nicht mehr ganz so trocken – hoch über St. Moritz
Analyse und Kritik (ich spare mir vor jedem Satz die Einleitung “aus meiner Sicht” bzw. “meiner Meinung nach):
- Durchaus nicht ungewöhnlich und völlig neu ist die Erkenntnis, dass es im alpinen Hochgebirge zu teils extremen Wetterbedingungen, Temperaturschwankungen und Niederschlägen kommen kann. Etwas anderes zu erwarten wäre schlicht leichtsinnig. Wie bei anderen Themen auch, ergeben sich hieraus Herausforderungen sowohl an die Organisation, als auch an die Wettkämpfer. Die Organisatoren sollten grundsätzlich darüber nachdenken, für wen sie ein solches, extremes Rennen organisieren. Es ist nicht zielführend, ein Rennen mit 200 km Länge und 12000 negativen Höhenmetern zu organisieren und damit den Zielmarkt “Hobbyläufer” erreichen zu wollen.
- Wenn ich jedoch die “richtigen” Athleten für ein solches Rennen am Start haben möchte, muss ein – wie auch immer geartetes (dazu später mehr) – Qualifizierungssystem her. Es erscheint mir nicht sinnvoll, Menschen auf diese extreme Strecke zu lassen, die realistischerweise nie das Ziel sehen werden. Damit brockt man sich von vorn herein eine Menge Ärger ein.
- Es erscheint mir nicht sinnvoll, als Qualifikation – wie auch beim UTMB – lediglich ein (wie auch immer geartetes) Finish zu verlangen. Wer einen “Hunderter” mit +/- 3000 HM mit Ach und Krach in den Cut-Off-Zeiten finisht, ist schwerlich für einen “200er” mit -12000 Hm qualifiziert. Warum nicht darüber nachdenken, dass die “Königsklasse” nur für die absolute Elite offen ist (aus der Hüfte geschossen: Für das vordere Drittel eines Laufs mit 100 km++ und 5000 Hm++ innerhalb der vergangenen 12 Monate).
- Von allem, was ich an diesem Tag gesehen habe, war ein Großteil der Läufer weder körperlich noch mental der Aufgabe gewachsen. Hinzu kommt das leidliche Thema MSÜ (masslose Selbstüberschätzung), wenn ich mir das Tempo ansah, mit dem wir das Val Roseg hintergdonnert sind. Das war nicht nachhaltig und damit nicht sinnvoll. Man sollte annehmen, dass dies bei erfahrenen Läufern weniger vorkommt. Die wahre Wucht eines solchen Vorgehens (über-pacing) hätte die Mehrheit der Läufer ohnehin erst später getroffen (wenn man mal acht bis zehn Stunden unterwegs ist).
- Es gibt offenbar immer wieder “Cleverle”, die so gewichts-fetischistisch unterwegs sind, dass sie sich gern selbst und andere in Schwierigkeiten bringen, in dem sie nicht die geforderte Pflichtausrüstung mitnehmen. Offenbar scheint hier eine Notwendigkeit zu “erzieherischem Eingreifen” notwendig. Stichprobenartige Überprüfungen kurz vor dem Start und während des Rennens an unangekündigten Orten erscheint sinnvoll. Selbstverständlich braucht es die notwendigen Konsequenzen, die nur Auschluss/Disqualifikation heißen können. Wer sich selbst und andere gefährdet, ist es nicht wert, weiter am Rennen teilnehmen zu dürfen.
- Durch obige Maßnahmen fallen viele Probleme weg: Sobald die “richtigen” Athleten starten, sie entsprechend seriös auf die kommenden Anforderungen vorbereitetsind und eine entsprechende Pflichtausrüstung dabei haben, braucht es im Rennen keines “Kindergartens”. Jede Wette, dass das vordere Viertel des Starterfelds gern und ohne Probleme das Rennen hätte fortsetzen können und wollen.
- Es kann nicht sein, dass die entsprechend vorbereiteten und ausgerüsteten Athleten wegen der schlecht vorbereiteten und ausgerüsteten Kollegen auf ein tolles Erlebnis, einen herausfordernden Wettkampf und das damit einhergehende Abenteuer durch die Nicht-Kalkulierbarkeit bestimmter äußerer Parameter gebracht werden.
- Ich konnte es nicht glauben, als ich die Streckenmarkierungen sah. Kurz: Das geht gar nicht! Das Thema ist wahrlich keine “rocket science”. Man kann tatsächlich wissen, was in dieser Hinsicht wie gut funktioniert. Und es bricht einem auch kein Zacken aus der Krone, wenn man einfach die Mitbewerber kopiert. Alles da. Da gibt es so eine kleine amerikanische Firma, die hochinnovative Lösungen zu dem Thema parat hat…und nicht erst seit gestern!
- Hinzu kommt die Häufigkeit und Regelmäßigkeit der Markierungen. So, wie es dort gemacht wurde, war es einfach deutlich zu knapp für das Skill-Level der meisten Teilnehmer. Hier gilt das Gleiche wie bei anderen Themen: Es ist nicht sinnvoll, “alle” einfach unqualifiziert teilnehmen zu lassen und ihnen dann zu sagen, dass gewisse navigatorische Fähigkeiten Grundvoraussetzung sind. Bei den Adventure Races gab es fast immer einen “skill test” vorab. Da sollte man eben schon eine Karte lesen können und mit dem Kompass (dabei gehabt?) umgehen können.
- Das führt zur andereen Seite der Medaille: Bei vielen Läufern scheint eine Vollkasko-Mentalität vorzuherrschen, nachdem ich weitgehend unvorbereitet, nicht ausreichend ausgerüstet und verpflegt und ohne jegliche (navigatorische) Fähigkeiten an den Start gehen kann und der Veranstalter wird alles andere schon irgendwie richten. Auch hier bedarf es einer Menge Aufklärung, dass es sich hier eben nicht mehr um den gemütlichen Stadtmarathon handelt, wo ich mein Hirn abschalten kann und stupide die Straße lang laufe (Denis: Da bist u.a. auch Du gefragt!).
- Ich würde sogar so weit gehen wollen, beim Thema Stirnlampe vom “worst case scenario” auszugehen (stockdunkel, Nebel oder mitten in der Wolke, schwieriges Gelände, dunkle, schlecht reflketierende Flächen) und Minimum-Anforderungen an die Technik zu stellen. Ich war ja beispielsweise beim ZUT auch in die missliche Lage gekommen, doch noch die Stirnlampe zu brauchen und war mit meiner Uralt-Tikka absolut nicht hinreichend ausgerüstet. Da hatte ich mir die 750 Lumen der Lupine Piko herbeigesehnt.
Nur so ein paar Gedanken. Die Diskussion ist eröffnet!