Straßenkinder trifft man überall – doch fast alle schauen weg

Den Charakter einer Gesellschaft erkennt man daran, wie sie mit ihren schwaechsten, aermsten, aeltesten und hilfsbeduerftigsten Mitgliedern umgeht.

Cartoon: Collateral damage (medium) by A Tale tagged buch,spielzeug,ruine,obdachlos,zivilbevoelkerung,zukunft,kind,schaeden,gewalt,frieden,opfer,krieg,kollateralschaeden

von Susan Bonath

Die Zahl der obdachlosen Jugendlichen steigt.

Diese Jugendlichen sind nicht nur obdachlos. Sie sind herausgerissen. Herausgerissen aus der Geborgenheit, aus der Gesellschaft. Einst herausgestürmt aus den Hamsterrädern, in die man sie drängen wollte, oder aus einer unerträglichen, meist hoffnungslosen Situation, sind sie auf dem kalten Asphalt der Straße gelandet. Viele hatten große Träume, als sie fortliefen.

Ich habe bei meinen Projekten viele Straßenkinder getroffen. Sie kamen gleichermaßen aus armen wie reichen Elternhäusern. Sie haben sich verabschiedet. Ein Aufbruch sollte es sein, ein Überlebenskampf ist es geworden. Ich traf 15jährige Alkoholabhängige, 13jährige, die im Winter auf Lüftungsschächten in Parkhäusern übernachteten, bis sie von der Polizei oder Ordnungsbediensteten um fünf Uhr morgens vertrieben wurden. Mit Stiefeln, mit Worten, wie “verpiss dich”. Die meisten bekamen keine Sozialleistungen, waren nicht krankenversichert. Sie lebten vom Schnorren, manche trugen Reisenden die Koffer zum Taxi, nicht wenige verkauften ihre Körper, um an Geld zu kommen.

Straßenkinder trifft man überall: In Parks, auf Bahnhöfen, auf alten Fabrikhöfen – sie sind unter uns. Doch fast alle schauen weg, niemand kümmert sich um sie. Aus besetzten Häusern werden sie vertrieben wie Vieh. Sie können sich nur gegenseitig in die Arme nehmen. Fast alle Straßenkinder einer Stadt kennen sich untereinander. Manche sind zusammen angereist – oft aus kleinen Käffern in das große, lebendige Berlin, oder nach Frankfurt am Main. Man mag es kaum glauben: Sie haben sich eine eigene soziale Welt aufgebaut. Sie organisieren sich gegenseitig Schlafsäcke, bringen den anderen Brot vom Vortag von Bäckerläden mit, die noch bereit sind, es ihnen zu geben, anstatt es wegzuwerfen. Das sind wenige. Was mich beeindruckte, war, dass ihre Welt oft sozialer war, als unsere.

Ein junger Sozialarbeiter aus Hamburg sagte mir kürzlich, er könne ob all des Leides, das er täglich sieht, nicht mehr in diesem Beruf arbeiten. Er gehe sonst selbst kaputt. Er berichtete, wie er mit einem 14jährigen, der seit einem Jahr in einem kleinen Zeltlager alkoholabhängiger Odachloser lebte und körperlich wie seelisch am Ende war, zum Jugendamt fuhr, um Hilfe für ihn bat: Der Angestellte habe den Jungen gefragt, ob er in einem Heim leben könne. Der Junge habe ihn groß angeschaut und gestammelt: “Sperren Sie mich da jetzt ein?” Der Mann habe ihn weggeschickt. “Der zieht sowieso nicht mit, den kann ich nirgendwo hinstecken” habe er erklärt. Wenn der Betroffene ein Problem habe, solle er in eine Notaufnahmestelle gehen. Zwei Flyer waren alles, was der Sozialarbeiter bekam. Er musste den Jungen dorthin zurückbringen, wo er ihn volltrunken und unterkühlt aufgefunden hatte. Das war zuviel für ihn. Er kündigte.

Selber schuld, höre ich schon manche sagen. Ich sage: Wir sind alle diese herausgerissenen, verwahrlosten Kinder. Sie sind ein Teil von uns. Sie sind der Teil, der verzweifelt sucht. Sie sind der Teil in uns, der ausbrechen will aus den ewigen Mühlen, die uns auf unserem täglichen Sprung nach der Wurst zermahlen. Sie sind die Kinder in uns, die einst Visionen hatten, große Träume. Sie spiegeln den geschundenen, verdrängten Rest in uns mit der übergroßen Sehnsucht, in eine warme, liebevolle Welt voll bunter Seifenblasen zu flüchten. Sie sind unser Produkt – und wir sehen weg, weil wir nicht sehen wollen, was wir anrichten. Da sind ja die Zahnräder, aus denen wir nicht rausfallen dürfen. Wir haben alle Angst, ganz viel Angst. Und deshalb sind wir aggressiv. Deshalb verachten wir. Deshalb hassen wir. Deshalb scheuen wir diesen Spiegel wie der Teufel das Weihwasser. Deshalb ignorieren wir unser Produkt…

quelle  Susan Bonath aufgelesen Irmgard Bösel

Cartoon http://fr.toonpool.com/cartoons/Collateral%20damage_150018

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links zum Thema

aktuell http://www.fr-online.de/rhein-main/interview–viele-haben-grosses-potenzial-,1472796,28249034.html

blobeiträge

http://mantovan9.wordpress.com/2012/02/02/hartz-iv-endstation-obdachlos/

http://mantovan9.wordpress.com/2012/07/27/deutschlands-verlorene-kinder/

schau du nicht weg


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