Staatszersetzung durch Volksmusik

Im den ehemaligen Hofstallungen, die heute Teil des Museumsquartiers sind, befindet sich die Halle G in welcher der ungarische Regisseur und Schauspieler Béla Pintér mit seiner Truppe sein neuestes Stück „Titkaink“ („Unsere Geheimnisse“) anlässlich der Wiener Festwochen zeigte. Darin verweist er einerseits auf die die kommunistische Herrschaft im Ungarn der 1980er Jahre, die Methoden des Geheimdienstes und den unbedingten Willen zu Macht- und Systemerhalt. Gleichwohl gelangt er auch ins heutige Ungarn, einem Land, das nicht wie die ehemalige DDR die Stasiakten zur öffentlichen Einsicht freigab. Vielmehr hatte in Ungarn weder die Linke noch die nun regierende Rechte ein Interesse daran, Unterlagen des ehemaligen Geheimdienstes zu öffnen. Wie schon bei anderen Pintér-Stücken spielt die Volksmusik eine subversiv-tragende Rolle und wird in Titkaink reichlich eingesetzt

István Balla Bán (Zoltán Friedenthal) mit seiner Stieftochter Timike (Èva Enyedi) im Stück von Béla Pintér bei den Festochen Wien (Foto: Zsolt Puskel)

István Balla Bán (Zoltán Friedenthal) mit seiner Stieftochter Timike (Èva Enyedi) im Stück von Béla Pintér bei den Festochen Wien (Foto: Zsolt Puskel)

Zoltán Friedenthal spielt dabei die tragische Rolle des Volksmusikforschers István Balla Bán, der sich zu Kindern hingezogen fühlt und seit einem Jahr nur noch Erregung empfinden kann, wenn seine 7-jährige Stieftochter Timike (Èva Enyedi) ihm körperlich näher kommt. Es gelingt Béla Pintér vor allem in der Szene in der Balla Bán der Psychiaterin Dr. Elvira Szádeczky – einfühlsam von Eszter Csákányi gespielt – seine Neigung offenbart, den inneren Kampf mit dieser sexuellen Vorliebe feinfühlig darzustellen. Ein verhängnisvolles Gespräch, wie sich zeigen soll. Das Sprechzimmer der Psychiaterin war nämlich verwanzt und so wird das Gesagte als Druckmittel genutzt, um ihn zur Kooperation mit dem Geheimdienst zu „motivieren“. Als Mitglied der „Tanzhausbewegung“, die im kommunistischen Ungarn boomte, und als einer der Treffpunkte für Oppositionelle galt, war sein Wissen und seine Informationen für den Geheimdienst äußerst hilfreich. Durch seinen Bericht wird sein Mitstreiter, leitender Redakteur einer Untergrundzeitung mit dem Titel: „Eiserner Vorhang“, Imre Tatár – von Belá Pintér selbst dargestellt – verhaftet. Das schlichte Bühnenbild mit einem riesigen Tonbandgerät und einfachen Hockern gestaltet, macht auf der einen Seite den Bezug zur Musik deutlich, verweist aber auch auf die ehemalige und heutige Praxis der Überwachung und Aufzeichnung von Gesprächen. Technik ist selten nur positiv oder nur negativ, es kommt auf den Nutzer und dessen Intentionen an.

Die Diskussionen über Big Data, Funkmastabfragen, NSA, Telefonüberwachung und Überwachung der digitalen Kommunikation zeigen, wie hochaktuell das Stück ist und darin liegt letztlich auch die Stärke dieses Theaterabends. Er stellt Fragen und zeigt Mechanismen auf, die eben nicht nur in Diktaturen Anwendung finden. Der Epilog über eine Preisverleihung im heutigen Ungarn zeigt, dass die Denunzianten und Systemeuphoristen der kommunistischen Ära auch im heutigen Ungarn ihren Platz gefunden haben. Dies ist ein Phänomen, dass nicht nur im Ungarn des Viktor Orban zu beobachten ist. Man erinnere sich nur an den Justizapparat in Deutschland und in Österreich nach der Naziherrschaft, in dem ehemalige Nazis unbehelligt weiter ihr Amt ausübten.

Der wohl klügste Schachzug von Belá Pintér liegt darin, die spannungsentladene Wirkung des Humors gnadenlos auszunutzen. Denn der aufwühlende und zum Teil auch frustrierende Inhalt wird mit einer gehörigen Portion Humor verdaulich gemacht. Ob es die Szene mit dem stark überzeichneten Kellner ist, oder das Gespräch mit der Psychiaterin, es darf und muss gelacht werden. Dies macht den Abend erträglich, ohne zu verharmlosen oder gar einzulullen. Der Kindermissbrauch wird als Metapher für die Erpressbarkeit des Menschen gezeigt. Dabei wird mehr als deutlich, dass jeder von uns seine dunkle Seite hat, die von den Mächtigen und Mitmenschen im Zweifelsfall gnadenlos ausgenutzt wird und es schon deshalb das Recht auf Privatsphäre geben muss und dieses mit allen Mitteln verteidigt gehört.

Ein vielschichtiger Abend voll mit tiefschwarzem Humor, der eine große Anzahl von Ungarinnen und Ungarn anlockte. Ein Zeichen, wie attraktiv das im Off-Bereich tätige Theater von Pintér tatsächlich ist.


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