St. Vincent
„MASSEDUCTION“
(Loma Vista)
Natürlich sagt man so etwas nur hinter vorgehaltener Hand und auch dann noch ganz, ganz leise, denn hier sind Missverständnisse vorprogrammiert: Aber ist es nicht so, daß Männer, die sich selbst medienwirksam zu erbitterten Kämpfern für die Rechte der Frau, gar zu entschlossenen Feministen ausrufen, immer ein wenig suspekt, wenn nicht sogar etwas albern wirken? Denn auch wenn Intention klar und das Ansinnen ehrbar ist, wirkt es doch manchmal so, als wolle der Herr im Haus zeigen, wie man einen ordentlichen Feldzug führt, um am Ende des hoffentlich siegreichen Gefechts freudestrahlend prahlen zu können, ohne ihn, den Mann also, wäre das alles nicht so toll gelaufen? Nun gut, ganz so steil ist diese These auch wieder nicht, Fakt scheint jedenfalls: Gäbe es mehr Frauen vom Format einer Annie Clark aka. St. Vincent, wir müssten uns solche umständlichen Gedanken gar nicht erst machen.
Denn wie kaum eine andere Künstlerin ist sie bereit, jedweden weiblichen Wesenszug, ob körperlichen Schlüsselreiz oder bestechenden Intellekt, mit fröhlichem Lächeln in die Waagschale des Geschlechterkampfes zu werfen. Kopf und Bauch, Hirn und Herz, Liebe und Lust, zärtliche Sanftmut und knallender Peitschenhieb – sie kann all das und mehr nach Belieben abrufen und tut es, wie man hört, auf dem neuen Album mit zunehmender Freude. Wer sie zu Platte befragen wollte (so war in der zu ZEIT lesen), musste sich dazu in einen pinkfarbenen Holzkasten zwängen, Deutungen ihrer Texte begegnet sie geduldig, aber distanziert, verweist lieber darauf, dass ihre Songs wie die Bilder eines Rohrschach-Tests funktionieren – es könne und solle sich jeder seinen Teil daraus nehmen, eine Deutungshoheit gebe es nicht, biographische Bezüge Fehlanzeige.
Viele Freiheiten also, die sie sich nimmt und ebenso viele, die sie dem Hörer und der Hörerin anbietet. Der Sound, abgemischt vom experimentierfreudigen Treibauf Jack Antonoff, ist eine brodelnde Mischung aus bratzigem Gitarrenbrett, pulsierender Tanzmucke mit komplett geplündertem 80er- und 90er-Arsenal und zwischengeschobenen Atempausen wie dem wunderbaren „New York“ oder der Anmut von „Slow Disco“ gegen Ende der Show. Mit der Frage „Am I being seduced, or am I the seducer?” macht St. Vincent das Titelthema im dazugehörigen Song auf, holt ein paar Queen-Loops aus der Requisite und ergänzt: „I can't turn off what turns me on!“ Wir sind immer beides, die Verführten und die Verführer, wir ereifern uns über die Allgegenwärtigkeit und die Oberflächlichkeit des medialen Zirkus und mischen doch selbst ganz gern kräftig mit.
So ist das Album auch ein Stück Bewusstheit und Achtsamkeit, für die schnellen, überdrehten Momente, aber auch für die Kehrseiten der Umtriebigkeit. Wer die richtigen Pillen hat, hält zwar länger durch, ist aber auch nicht glücklicher, geschweige denn gerettet. Antworten sind nicht zu holen, die Zukunft ist ungewiß und wird es bleiben, die Liebe bringt Trost, aber manchmal eben auch den Schmerz. Ein paar Zeilen dazu gibt’s ganz zum Schluß: „And sometimes I go to the edge of my roof and I think I'll jump just to punish you. And if I should float on the taxis below, no one would notice, no one will know. And then I think what could be better than love, than love, than love?“ Ein buntes, zuweilen fast grelles Album ist das geworden, das keiner Versuchung widerstehen will und alles probiert. Wahrhaftig, trotzig, ein unendlicher Spaß, der immer auch eine traurige Kehrseite hat. http://ilovestvincent.com/
26.10. Berlin, Huxley‘s
„MASSEDUCTION“
(Loma Vista)
Natürlich sagt man so etwas nur hinter vorgehaltener Hand und auch dann noch ganz, ganz leise, denn hier sind Missverständnisse vorprogrammiert: Aber ist es nicht so, daß Männer, die sich selbst medienwirksam zu erbitterten Kämpfern für die Rechte der Frau, gar zu entschlossenen Feministen ausrufen, immer ein wenig suspekt, wenn nicht sogar etwas albern wirken? Denn auch wenn Intention klar und das Ansinnen ehrbar ist, wirkt es doch manchmal so, als wolle der Herr im Haus zeigen, wie man einen ordentlichen Feldzug führt, um am Ende des hoffentlich siegreichen Gefechts freudestrahlend prahlen zu können, ohne ihn, den Mann also, wäre das alles nicht so toll gelaufen? Nun gut, ganz so steil ist diese These auch wieder nicht, Fakt scheint jedenfalls: Gäbe es mehr Frauen vom Format einer Annie Clark aka. St. Vincent, wir müssten uns solche umständlichen Gedanken gar nicht erst machen.
Denn wie kaum eine andere Künstlerin ist sie bereit, jedweden weiblichen Wesenszug, ob körperlichen Schlüsselreiz oder bestechenden Intellekt, mit fröhlichem Lächeln in die Waagschale des Geschlechterkampfes zu werfen. Kopf und Bauch, Hirn und Herz, Liebe und Lust, zärtliche Sanftmut und knallender Peitschenhieb – sie kann all das und mehr nach Belieben abrufen und tut es, wie man hört, auf dem neuen Album mit zunehmender Freude. Wer sie zu Platte befragen wollte (so war in der zu ZEIT lesen), musste sich dazu in einen pinkfarbenen Holzkasten zwängen, Deutungen ihrer Texte begegnet sie geduldig, aber distanziert, verweist lieber darauf, dass ihre Songs wie die Bilder eines Rohrschach-Tests funktionieren – es könne und solle sich jeder seinen Teil daraus nehmen, eine Deutungshoheit gebe es nicht, biographische Bezüge Fehlanzeige.
Viele Freiheiten also, die sie sich nimmt und ebenso viele, die sie dem Hörer und der Hörerin anbietet. Der Sound, abgemischt vom experimentierfreudigen Treibauf Jack Antonoff, ist eine brodelnde Mischung aus bratzigem Gitarrenbrett, pulsierender Tanzmucke mit komplett geplündertem 80er- und 90er-Arsenal und zwischengeschobenen Atempausen wie dem wunderbaren „New York“ oder der Anmut von „Slow Disco“ gegen Ende der Show. Mit der Frage „Am I being seduced, or am I the seducer?” macht St. Vincent das Titelthema im dazugehörigen Song auf, holt ein paar Queen-Loops aus der Requisite und ergänzt: „I can't turn off what turns me on!“ Wir sind immer beides, die Verführten und die Verführer, wir ereifern uns über die Allgegenwärtigkeit und die Oberflächlichkeit des medialen Zirkus und mischen doch selbst ganz gern kräftig mit.
So ist das Album auch ein Stück Bewusstheit und Achtsamkeit, für die schnellen, überdrehten Momente, aber auch für die Kehrseiten der Umtriebigkeit. Wer die richtigen Pillen hat, hält zwar länger durch, ist aber auch nicht glücklicher, geschweige denn gerettet. Antworten sind nicht zu holen, die Zukunft ist ungewiß und wird es bleiben, die Liebe bringt Trost, aber manchmal eben auch den Schmerz. Ein paar Zeilen dazu gibt’s ganz zum Schluß: „And sometimes I go to the edge of my roof and I think I'll jump just to punish you. And if I should float on the taxis below, no one would notice, no one will know. And then I think what could be better than love, than love, than love?“ Ein buntes, zuweilen fast grelles Album ist das geworden, das keiner Versuchung widerstehen will und alles probiert. Wahrhaftig, trotzig, ein unendlicher Spaß, der immer auch eine traurige Kehrseite hat. http://ilovestvincent.com/
26.10. Berlin, Huxley‘s