Spuren im Sand

Geschickt wich sie der kunstvollen Sandburg aus, die jemand –vermutlich ein Kind- mitten auf ihrem Weg platziert hatte. Die Burg erschien auf den ersten Blick schlicht: wie ein Vulkan war sie geformt, lief nach oben hin spitz zu und wurde von einem Stein gekrönt. Menschen, die ebenfalls den Strand entlangpilgerten, um die Frühlingsluft zu genießen, blieben stehen und warfen einen Blick auf die Burg. Auf den zweiten Blick offenbarte sie ihren eigentlichen Zauber: wenn man genau hinsah, konnte man feine Wege erkennen, die in die Oberfläche eingearbeitet waren. Dünne, aber gleichmäßige Vertiefungen, die sich ihren Weg rund um die Burg bahnten und schließlich sanft ausliefen. Der Burggraben erstreckte sich mit einem Durchmesser von etwa einer Handbreite im Sand und war gefüllt mit schwarzen, vertrockneten Algen, die von der unbarmherzigen Flut dort hineingedrückt worden sein mussten. Sie passten nicht zum majestätischen Ambiente der Burg, und darum konnte sie sich nicht vorstellen, dass der Erbauer sie dort willentlich platziert hatte. Vielmehr waren sie ein Zeichen der Natur, die sich der Burg anzunehmen begann. Schon bald würde das Kunstwerk aus Sand nur noch ein unförmiger Klumpen sein. Geschaffen vom Menschen, zerstört von der Natur im Laufe der Zeit. Einzig der gelb-braune Stein würde so bleiben, wie er in diesem Moment war. Die Form erinnerte sie an eine Ente, oder an einen Käfer – diese beiden Automarken konnte sie beim besten Willen nicht auseinanderhalten. Schon so häufig war ihre milde Verzweiflung ob der Unterschiede in der Karosserie belächelt worden, doch es war, wie es war: für sie sahen beide Autos einfach gleich aus.

Mittlerweile waren ein Junge im Kindergartenalter und sein Großvater an der Burg stehengeblieben  und beäugten sie beeindruckt. Der Junge zeigte mit dem Finger darauf und murmelte etwas, das auch aus wenigen Metern Entfernung schon nicht mehr zu verstehen war. Der ältere Mann zog daraufhin seine schlichte Windjacke noch etwas enger um sich zusammen, nickte und antwortete genauso leise. Sie umkreisten die Burg ein-, zweimal und verließen den Schauplatz dann Hand in Hand. Der Junge strahlte über das ganze Gesicht, und sie fragte sich, ob der Großvater dem Kleinen wohl eine eigene Sandburg versprochen hatte – vielleicht im heimischen Sandkasten?

Ein Stück blau-weißes Plastik, das zum Teil im Strand eingegraben war, erregte ihre Aufmerksamkeit. Es war dort achtlos zurückgelassen worden, trotz der in regelmäßigen Abständen aufgestellten Hinweisschilder, dass Müll doch bitte wieder mitgenommen werden sollte. Das Mindesthaltbarkeitsdatum war zum Teil abgerissen, doch sie konnte die Jahreszahl einwandfrei erkennen. Es war eine 16. Innerhalb dieses Jahres sollte der Inhalt also verzehrt werden – nur dass er schon nicht mehr da war. Die blaue Oberfläche des etwa fünf Zentimeter langen Plastiks war zum Großteil abgeschabt, als hätte jemand es mit Schmirgelpapier bearbeitet. Große Flächen waren komplett weiß, einige kleinere hatten noch ihre Ursprungsfarbe und bei den Übergängen zeigten sich klare Schleifspuren.

Sie fragte sich, wie dieses Papier hier an den Strand gekommen war. Hatte sich ein Kind eine Stärkung für den Ausflug ans Meer mitgenommen? War es jemandem in diesem Zustand aus der Jackentasche gefallen, als er oder sie nach einem Taschentuch griff? Oder war es vielleicht sogar angespült worden und stammte aus dem unmittelbar gegenüberliegenden Nachbarland? Obwohl sie neugierig war, nahm sie das Plastik nicht auf, um es näher zu untersuchen. Es gehörte nun offenkundig zur Strandlandschaft dazu. Sand hatte sich sowohl innen als auch an der Außenseite festgesetzt. Ein weiterer Versuch der Natur, sich etwas von Menschen Geschaffenes anzueignen.

Ihr Blick fiel nun auf einen flachen Stein direkt neben dem Plastik. Er war nur etwa einen halben Zentimeter hoch und beinahe rechteckig. Die Kanten waren von der rauen See abgeschliffen. Je länger sie den Stein betrachtete, umso mehr faszinierte sie an ihm: die Innenseite durchzogen weiße Einkerbungen, die gleichmäßig oval waren und jeweils spitz zuliefen. In ihrer Gesamtheit erinnerten sie sie stark an die Form des Sydney Opera Houses, welches sie vor fast zwei Jahren hatte erkunden können. Selbst die Farben stimmten überein.

Vorsichtig blies sie die vereinzelten Sandkörner fort, die sich auf der Oberfläche niedergelassen hatten, um ein Detail besser erkennen zu können: an der oberen Kante war ein Stück abgesplittert, nur etwa so groß wie der Nagel eines Kinderfingers, und darunter kam eine glänzende, tiefbraune Oberfläche zum Vorschein. Auf den ersten Blick verbarg der Stein diese; er offenbarte sein Geheimnis nicht sofort. Dieser Anblick war denjenigen vorbehalten, die sich die Zeit nahmen, näher hinzusehen.

Auf der nach außen gewölbten Seite des Steines entdeckte sie neben einigen kreisrunden Löchern, die aussahen, als wären sie mit Hilfe eines Zirkels konstruiert worden, etwas, das sie dazu veranlasste, den Stein direkt vor ihre Augen zu halten und langsam in alle Richtungen zu drehen: eine Erhöhung, etwa einen Zentimeter im Durchmesser, die umrandet war von einer gleichmäßigen Vertiefung. Zunächst fühlte sie sich nur an die Sandburg erinnert, die sie zuvor erspäht hatte, doch dann bemerkte sie die feinen Rillen und unscheinbaren punktuellen Einbuchtungen in dieser Erhöhung. Als sie vorsichtig mit ihrem meeresfarbigen Fingernagel darüber strich, tat sich nichts; die Struktur blieb bestehen. Es schien ihr, als sei dies der versteinerte Überrest einer Meerespflanze, die viele Jahre überdauert hatte. Die Einkerbungen waren so zart, aber doch klar in ihrer Struktur. Und als sie den Stein noch ein klein wenig höher hob, um die Erhöhung von der Seite zu betrachten, erkannte sie mit vor Anstrengung zusammengekniffenen Augen, dass die Rillen am hinteren Ende winzige Löcher hatten, die ihnen die Optik einer waagerechten Orgelpfeifen-Ansammlung verliehen. Dieses Fundstück war in jedem Fall ein Zeuge längst vergangener Zeiten.

Für heute hatte die Natur sie genug überwältigt. Langsam stand sie auf, klopfte sich den Sand von der Jeans und schulterte ihre Tasche. Mit einem kurzen Klopfen auf die Seitentasche vergewisserte sie sich, dass der Stein darin sicher untergebracht war, dann machte sie sich auf den Rückweg in ihre warme Wohnung. Ein weiteres Mal hatte dieser Ort ein Stück seines Zaubers offenbart, und sie konnte es kaum erwarten, zurückzukehren und etwas Neues zu entdecken.

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