Spiel mit dem Körperlosem

Der Raum war brummend voll, auf der Bühne Rollstuhlfahrer Roland: “Marie ist extrem professionell, hat eine hohe Ausdruckskraft und kann mehrere Körper sichtbar machen.” Es war das erste Mal, dass ich die Schauspielerin sehen würde, ich wartete gespannt.

Da hopste sie aus dem Dunkeln hervor, in einem kurzen schwarzen Kleidchen. Ein körperlich behinderter Mann lag auf dem Boden. In diesem Moment erinnerte ich mich an all die Darsteller und Tänzer, die genau das versuchen darzustellen: die verlorene Kontrolle um den Körper, mit verzerrten Bewegungen, Zuckungen. Und hier war jemand, der das gar nicht darstellte, sondern eben so ist.

Marie Golücke // Ackerstadtpalast

Roland’s Künstlerrampe, Montag, 24.02.2014

Eine Stimme ertönte über die Lautsprecher. Ich nahm den Versuch war, zu verstehen, was er da sprach, und mich zu ärgern, dass ich nichts verstehen konnte, doch ich entspannte mich. Das Wort “Mitleid” kam ganz klar heraus für mich. Marie teilte den Raum sehr respektvoll mit dem Mann, gekleidet in schwarzer Jogginghose und T-Shirt, auf dem Boden umher rollend. Ich fragte mich, wie sie wohl die Choreografie mit ihm eingeübt hatte und konnte gar nicht glauben, wie das möglich gewesen war. Darüber war ich überrascht, und auch hier entspannte ich mich und ließ die Offenheit zu, die Intimität auf mich wirken zu lassen, wie sie so ungewohnt und teilweise verstörend auf mich einwirkte.

Das Publikum bestand zum größten Teil aus Frauen, vielen jungen Mädchen. Als wir im zweiten Teil auf die Bühne gebeten wurden, sah ich, dass es ihnen gut tat, von einer reifen Frau, Marie Golücke, die Sexualität, Nacktheit und Intimität ohne Wertung zeigte, zu lernen. Marie hat da etwas Unglaubliches gezeigt. All die Schablonen, wie wir sexuelle Interaktion, Beziehung und Werte betrachten, fielen weg und waren schlichtweg ungültig, falsch, in diesem Moment. Was für eine Erleichterung und Befreiung.

“Ich bin auch da, wo ihr seid,” sprach die undeutliche Stimme, und Marie sprach sie nach, wieder als Tonbandaufnahme. Sie zog den Körper über die Bühne und legte sich zu ihm, zog ihn aus, streifte sich seine Klamotten über, nachdem sie sich selbst bis auf die Unterwäsche ausgezogen hatte. Diese Szene als pervers und geschmacklos zu betrachten, ja, das sind wir so gewohnt. Doch hier war kein Wort davon zu hören, nur das zu sehen, was ist, zu hören, wie es empfunden wurde.

Und es war wunderbar. All unsere eigenen sexuellen Gefühle und Gedanken kamen hoch: Scham, sexuelle Gedanken, sexuelle Erregung. Ein Vater hielt seine junge Tochter in den Armen, voller Erschaudern, das mit ihr zusammen zu sehen, doch sie hatten keine Wahl. Und es tat den beiden gut, mal nicht weg zu schauen. Das, was man empfand, tauschte man nachher in Worten aus oder eben nicht. Auf die Bewertungsmaschinerie, die wir antrainiert haben, können wir uns einlassen, oder eben nicht. Diese Wahl steht uns frei.

Ich bin sehr dankbar über die Möglichkeit, diese Offenheit so erfahren zu haben und die Chance zu bekommen, mein eigenes Schubladendenken- und fühlen aufwühlend und genussvoll zu konfrontieren.


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