Heute bin ich durch den deutschen Zeitungswald gelaufen und siehe da, schon kam an einer Lichtung die Herde vorbei. Und fast alle bewegten sich in die gleiche Richtung und riefen die von SPD und Grüne gestreute Losung des gestrigen Tages:
"Die Linken haben die Chance vergeben, den Kandidaten der Opposition zu wählen! Die Linken hatten die Chance, mit ihrer SED-Vergangenheit zu brechen! Die Linken zeigen nunmehr wieder ihre bundespolitische Koalitionsunfähigkeit!". Ich kenne diese Logik von den Rechenaufgaben meiner Kinder: "Aber Mama, 2 Äpfel und 2 Äpfel müssen doch 22 Äpfel sein!"
Es ist eigentlich fast zu schön, um es zu korrigieren. Aber die Fakten sind nun mal anders: 1. Joachim Gauck war für die Linke prinzipiell inhaltlich kaum wählbar und 2. wurden sie von Rot-Grün vorher nicht gefragt. 2+2 macht immer noch 4.
Die Reaktion der Linkspartei hingegen ist nachvollziehbar, sie entspricht auch den Fakten: Wenn man zwischen Wulff und Gauck nicht wählen möchte und keine Absprachen über die Kandidaten existieren, dann stellt man einen Kandidaten auf, den man stattdessen wählen kann. Deshalb haben sie mit Luc Jochimsen eine Zählkandidatin ins Rennen geschickt, aber so gesehen war das ehrlicher als Gauck wählen.
Das wäre mit einem simplen Anruf von Sigmar Gabriel zu drehen gewesen: "Wollt ihr mit uns einen Kandidaten stellen? Was haltet ihr eigentlich von Joachim Gauck?" Der gemeinsame Kandidat hätte mit Sicherheit nicht Gauck geheissen. Er wäre, hätte es ihn gegeben, sicherlich auch bereits im ersten Wahlgang gegen Christian Wulff gescheitert. Aber er hätte langfristig suggeriert, dass eine Zusammenarbeit der drei Parteien möglich ist, und wie bald schon sich die Frage nach einer solchen Zusammenarbeit stellen könnte, haben zwei der drei Wahlgänge des gestrigen Tages bewiesen.
Vielleicht hätte es auch keinen gemeinsamen Kandidaten gegeben, so hätte man sich wenigstens an die Etikette gehalten. Aber dann wäre das Gerede über die nicht vorhandene Koalitionsfähigkeit der Linken auch nicht blosse Heuchelei, sondern vielmerh schon Verleumdung gewesen. Stattdessen hat man die Farce der nordrhein-westfälischen Sondierungsgespräche wiederholt und diesmal die Lautsprecher so richtig aufgedreht. Und weil alle Medien das schon vor anderthalb Monaten das von SPD und Grünen so schön übernommen, haben sie es diesmal auch wieder gemacht!
Zu allem Überfluss holten SPD und Grüne dann auch noch den Lachschlager von der SED-Vergangheit aus der Mottenkiste. Ja, schon klar. Alle Linkspartei-Genossen im Westen müssen sich von jetzt an immer und überall für die DDR-Vergangenheit der anderen Genossen entschuldigen. Deshalb müssen wir der gestrigen Wahl dringendst feststellen, dass sich auch CDU und FDP weiterhin nicht von der Vergangenheit ihrer Blockparteie – ein wichtiger Baustein im Umrechtsstaate DDR – distanzieren und dann nicht mal Gauck wählen, um sich reinzuwaschen.
Und dann noch dieses "Wir alle sind Opposition! Hättet ihr gefälligst den Kandidaten der Opposition, also Joachim Gauck, gewählt, dann wäre Wulff nicht Bundespräsident". Es ist merkwürdig, dass Gauck sich selbst eigentlich nicht als Kandidat der Opposition begriffen hat. Verkauft wurde er uns ja von SPD und Grünen auch grundsätzlich als der Kandidat für alle Deutschen – als Zeichen gegen Parteitaktik. Sollte das etwa, möchte man unschuldig staunend fragen, eine weitere Lüge gewesen sein?
Er war de facto eben nur *einer* der Kandidaten der Opposition und hatte so oder so nie eine Chance. Nicht nur der dritte Wahlgang hat eindeutig gezeigt, dass, wenn die Linke keinen eigenen Kandidaten aufgestellt hätte und nur Gauck gegen Wulff angetreten wäre, die Abweichler und CDU und FDP sofort zur Parteilinie gestanden hätten. Es ist also sogar das Glück der SPD und Grünen, dass mit Luc Jochimsen noch eine Kandidatin da war. Das ganze Szenario mit der drohenden Niederlage Wulffs gestern war nur deswegen möglich.
Aber das Attestieren fehlender Koalitionsfähigkeit bei der Linkspartei ist an Plumpheit kaum noch zu unterbieten. Wenn überhaupt, geht es hier um -bereitschaft. Das Demokratieverständnis anzugreifen, ist sogar regelrecht absurd – der satirische Twitteraccount "joachimgauck" hat das in 140 Zeichen so wunderbar zusammengefasst:
Schönes Statement. Fehlende Fairness und Kurzsichtigkeit bei SPD und Grüne ist die eigentliche Essenz dieser Diagnose. Mit der Nicht-Einbeziehung haben die SPD- und Grünen-Spitzen mehr kaputt gemacht, als sie gewonnen haben. Das Signal aus dieser Bundesversammlung heraus hätte sein können: Wir drei Oppositionsparteien wollen zusammen arbeiten und die Regierung vor uns hertreiben. Im Endeffekt, das hab ich schon erwähnt, ist ihnen das sogar noch besser gelungen, weil die Linkspartei einen eigenen Kandidaten aufgestellt hat. Aber die Gesamt-Perspektive ist wichtig:
Rot und Grün und Rot sollten sich zusammenfinden, um langfristig wieder die Herrschaft über dieses Land zu übernehmen. Nach und nach über die Landesregierungen und danach im Bund. Die SPD und die Grünen müssen zeigen, dass sie die Linkspartei auch ernstnehmen, wenn sie schon von ihr ernstzunehmende Politik fordern.
Bis dahin bleibt das Wetter inmitten von Tieffronten rauh. Mit aufkommendem Wind vom Osten.
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