02.10.2011 – Eine Arbeitsgruppe der SPD-Bundestagsfraktion beschäftigt sich unter der Leitung von Hans-Peter Bartels mit dem Thema „Demokratie erneuern, Demokratie leben“ und hat ein Papier mit Vorschlägen für Reformen im politischen Betrieb, in Schulen und gegenüber den Medien erarbeitet.
Die insgesamt 15 Mitglieder der Arbeitsgruppe fordern unter anderem die Einführung von Bürgerentscheiden auf Bundesebene, ein Verbot von Parteispenden durch Firmen und Vereine, die Demokratisierung der Schulen, den Rückzug von Regierungsmitgliedern und Parlamentariern aus den Gremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder die Förderung von Bürger- und Qualitätsjournalismus. Die SPD Arbeitsgruppe Demokratie reagiert hiermit auf den Rückgang der Wahlbeteiligung, den Mitgliederschwund bei den großen Volksparteien, die Zersplitterung der Parteienlandschaft und die fortschreitende Politikverdrossenheit der Bürger.
Welche konkreten Forderungen werden in dem Positionspapier gestellt, wie positioniert sich die SPD gegenüber der digitalen Informationsgesellschaft und welche Fortschritte konnten die Sozialdemokraten erreichen, nachdem Willy Brandt 1969 zu mehr Demokratie aufrief?
„Mehr Demokratie wagen“: Eine Forderung mit Tradition
Neu sind die Forderungen der SPD Arbeitsgruppe Demokratie nicht. In seiner berühmten Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 stellte bereits der damalige Bundeskanzler Willy Brandt in Aussicht:
Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun. Wir werden darauf hinwirken, dass nicht nur die Anhörungen im Bundestag, sondern auch durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken.
Seit Beginn der 17. Legislaturperiode beschäftigen sich nun insgesamt 15 Abgeordnete der SPD-Bundestagsfraktion mit einer Neuauflage der Forderung nach mehr Demokratie und wollen damit der zunehmenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit dem Politikbetrieb entgegentreten. Ein öffentlich zugängliches Positionspapier der „AG Demokratie“ bemüht sich um eine Darstellung der aktuellen Verhältnisse und unterbreitet konkrete Vorschläge gegen Politikverdrossenheit, Mitgliederschwund bei den Parteien und die Hinwendung zu Alternativen zur parlamentarischen Demokratie.
Damit kümmert sich die Arbeitsgruppe hauptsächlich um wachsende Probleme in den eigenen Reihen: In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Zahl der SPD-Mitglieder annähernd halbiert. Gerhard Schröders und Frank-Walter Steinmeiers „Agenda 2010“ hat Zweifel an der sozialen Kompetenz der Partei genährt. Die Grünen, die Linkspartei und zuletzt die PIRATEN haben ehemals sozialdemokratische Kernthemen für sich entdeckt und die einst markanten Unterschiede zwischen Union und SPD wurden der zunehmenden Beliebigkeit geopfert.
Im Ergebnis steht für die Sozialdemokraten der Status als Volkspartei auf dem Spiel und die Arbeitsgruppe Demokratie skizziert dementsprechend hauptsächlich Auswege aus dem eigenen Dilemma. Einige der genannten Forderungen sind dennoch interessant und bieten das Potenzial für Diskussionen und Auseinandersetzungen. Das Papier steht unter dem Leitsatz: „Demokratie vererbt sich nicht. Sie muss von jeder Generation neu erlernt, erfahren und gelebt werden.“
Demokratie im politischen Betrieb
Die Vorschläge der AG Demokratie beschäftigen sich mit drei verschiedenen Themenfeldern. Es geht hierbei um den politischen Betrieb im Allgemeinen, um die politische Bildung und um die Rolle der Medien in der Gesellschaft.
Im ersten Abschnitt werden Maßnahmen vorgestellt, die das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik steigern und dem Bürger das Gefühl von Mitbestimmung vermitteln sollen. Hierzu zählen unter anderem folgende Forderungen:
- Einführung von Bürgerinitiativen, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid auf Bundesebene.
- Einfügung einer Oppositionsklausel ins Grundgesetz, in der die Aufgabe der parlamentarischen Opposition beschrieben wird.
- Keine Nebentätigkeiten von Abgeordneten im Bundestag und im EU-Parlament
- Lobbyregister beim Deutschen Bundestag
- Keine Spenden von Firmen und Verbänden an Parteien
Neu sind diese Forderungen dabei nicht. Sie lassen sich fast wörtlich in den Parteiprogrammen von Linkspartei und PIRATEN nachlesen.
Die Arbeitsgemeinschaft sieht eine wesentliche Ursache für Vorurteile und Verdrossenheitsklischees im Verhaltensmuster und in der Sprache von Politikern und fordert daher die Verständigung auf eine „Abgeordneten-Ethik“. Vier Punkte skizzieren künftige Anforderungen an die „Sprachmuster“ von Abgeordneten und lesen sich wie Rollenanweisungen in den Drehbüchern von scripted reality TV-Formaten:
- Sagt niemals, es sei ja nur parteipolitisch, was der politische Gegner vorbringt!
- Schlagt niemals vor, man möge ein bestimmtes Thema aus dem Wahlkampf heraushalten!
- Hört auf damit, jede Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als schallende Ohrfeige für die im Rechtsstreit unterlegene Seite zu bezeichnen!
- Missbraucht die Befürchtung, etwas fördere die Parteienverdrossenheit, nicht in der politischen Auseinandersetzung!
Abschließend wird vorgeschlagen, dass dem Bundespräsidenten künftig die Aufgabe übertragen werden könnte, Demokratie zu erklären und Verdrossenheitspopulismus entgegenzuwirken.
Während die Forderungen in Sachen Bürgerentscheid, Parteispenden, Nebentätigkeiten und Lobbyregister sinnvoll und vernünftig sind, unterläuft der Arbeitsgemeinschaft in Bezug auf die Aufbesserung der negativen Außenwirkung von Politikern ein arroganter Denkfehler. Hierbei handelt es sich nämlich weniger um Vorurteile und Klischees sondern eher um bestätigte Beobachtungen der Bevölkerung.
Ein fest vereinbarter Sprach- und Verhaltenskodex löst das Problem nicht. Den Polit-Darstellern geringfügige Veränderungen in die Rollenbeschreibung zu diktieren, dürfte den begründet negativen Eindruck eher verstärken. Ob darüber hinaus ausgerechnet der Bundespräsident die richtige Person ist, um der Verdrossenheit entgegenzutreten, muss zumindest in Bezug auf den derzeitigen Amtsinhaber stark bezweifelt werden.
Demokratische Bildung in der Schule
Der zweite Abschnitt des Positionspapiers der AG Demokratie beschäftigt sich mit der Demokratisierung des Schulwesens und der Vermittlung von politischer Bildung in den Schulen.
Als signifikant erleben es die Mitglieder der Arbeitsgruppe, dass junge Menschen durch das Internet heute einer ungeordneten Informationsflut ausgesetzt sind. Problematisch erscheint ihnen hierbei die Aufgabe, die Informationen zu gewichten und zu bewerten. Eine moderne demokratische Bildung soll dabei helfen, Zusammenhänge zu kategorisieren und zu verstehen.
Diese Einschätzung ist zwar in Teilen zutreffend, trägt allerdings deutlich die Handschrift einer Generation, die das Internet lediglich von Außen und mit interessiertem Argwohn betrachtet. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, über die hier gesprochen wird, sind in einer digitalen Medien- und Informationsgesellschaft aufgewachsen und nutzen sie nativ. Der bloße Besuch einer Internetseite (vgl. hierzu Bärbel Höhn: „Ich habe auch mal Internet geguckt.“) macht dabei nur einen marginalen Anteil der digitalen Kommunikation aus.
Dementsprechend wirklichkeitsfremd, altväterlich und unbeteiligt wirken auch die konkreten Maßnahmen, die von der AG Demokratie zu diesem Thema vorgeschlagen werden. Man will Demokratie-Trainer an den Schulen einsetzen, Debattier-Clubs ein- und Debattier-Wettbewerbe ausrichten, Rollenspiele veranstalten und Politik dadurch erlebbar machen, dass man Politiker an die Schulen schickt. Gerade der letzte Vorschlag erinnert an Guido Westerwelle im Big-Brother Container und dürfte wohl kaum dazu beitragen, unter den Schülern das Bewusstsein für die Möglichkeiten zur Teilhabe an politischen Prozessen schärfen.
Dennoch enthält das Papier zumindest eine vernünftige Forderung in Sachen Demokratie an Schulen: „Lehrerinnen und Lehrer, Eltern, Schülerinnen und Schüler müssen zu gleichen Teilen an allen wichtigen Entscheidungen des Schulalltags beteiligt werden“.
Demokratie und Medien
Der letzte Abschnitt im Forderungskatalog der Arbeitsgemeinschaft befasst sich mit der Rolle der Medien und stellt hierzu zutreffend fest: „Wir leben in einer Mediengesellschaft“.
Eingangs werden die Aufgaben und Funktionen von Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften, Radio und Internetmedien definiert: Sie sollen als zentrale Vermittlungsinstanzen Foren für öffentliche Diskussionen schaffen und sich selber mit eigenen Positionen und Wertungen an Debatten beteiligen, um so der Orientierung und Willensbildung der Bevölkerung zu dienen.
Die AG Demokratie kritisiert, dass die Medien diesen öffentlichen Auftrag nicht immer erfüllen und führt als Beispiele hierfür den Versuch an, „Ersatzpolitiker“ zu spielen und selbst „Politik zu machen“.
Für Abhilfe sollen hierbei unter anderem die folgenden Maßnahmen sorgen:
- Regierungsmitglieder und Parlamentarier sollten sich aus den Gremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zurückziehen.
- Die Produktion von Polittalkshows muss wieder in Eigentätigkeit der Sendeanstalten erfolgen und soll nicht den Produktionsfirmen der Moderatoren überlassen werden.
- ARD und/oder ZDF sollten künftig einmal wöchentlich ein neuartiges Magazin ausstrahlen, das Bemerkenswertes aus Bundestag und Landtagen zusammenfasst, aber auch tatsächliche Funktionsweisen und Abläufe des Parlamentarismus vermittelt.
- Ein unabhängiger Medienrat sollte dauerhaft beim Bundespräsidenten eingerichtet werden.
Während die Vorschläge in Bezug auf die klassischen Medien im öffentlich-rechtlichen Rundfunk sinnvoll sind – hier vor allem die Forderung nach dem Rückzug der Politik aus den Gremien der Sendeanstalten – versagt das Konzept in Sachen neue Medien völlig.
Hier wird zunächst davor gewarnt, das Internet zu überschätzen. Am Ende bliebe es ein Kommunikations-Mittel. Der Einfluss von Twitter und Facebook auf den „Arabischen Frühling“ müsse bezweifelt werden. Versuche, deutsche Online-Bewegungen auf die Straße zu bringen, seien gescheitert. Die Erfahrungen aus den 1980er Jahren in Europa zeigten, dass eine Demokratisierung auch ohne das Internet auskomme.
An dieser Stelle zeigt sich erneut das ganze Ausmaß der Unkenntnis und Ignoranz gegenüber der tatsächlichen Beschaffenheit der digitalen Informationsgesellschaft. Dementsprechend gipfeln die Ausführungen zum Thema „Demokratie und Medien“ in der absurden Forderung, das Potenzial des Bürgerjournalismus dadurch weiter auszuschöpfen, dass der Staat Einrichtungen betreibt, in der jeder interessierte Bürger den „Bürgerjournalismus nach bestimmten qualitativen Maßstäben“ erlernen kann.
Deutlicher hätten die Mitglieder der Arbeitsgruppe nicht zeigen können, dass sie nichts von dem verstanden haben, was in der modernen Mediengesellschaft bereits Realität ist: Politische und gesellschaftskritische Blogs, politische Foren, Whistleblower-Plattformen, soziale Netzwerke, Aktionsbündnisse, Petitionsportale, Pads und viele andere Formen der digitalen Kommunikation haben ihre Arbeit längst aufgenommen und prägen die Gesellschaft und die öffentliche Meinungsbildung.
Blogger, Netzaktivisten, grass-roots-movements und bürgerjournalistischen Plattformen brauchen keine staatliche Anleitung ausgerechnet von denjenigen, die ihre digitalen Hausaufgaben nicht gemacht und den Anschluss an die Informationsgesellschaft verpasst haben.
Mehr Demokratie wagen?
Im Ergebnis enthält das Positionspapier der SPD Arbeitsgruppe Demokratie einige gute Anregungen, die sich allerdings längst in den Parteiprogrammen der Linken und der PIRATEN finden lassen. Hierzu zählen unter anderem die Forderungen nach mehr Transparenz im politischen Betrieb, einem Parteispendenverbot für Firmen und Vereine, einem Rückzug von Politikern aus den Rundfunkgremien oder einer strengen Reglementierung der Nebentätigkeit von Abgeordneten.
Die Ausführungen zum Thema „Abgeordneten-Ethik“ wirken wie ein Drehbuch für den politischen Alltag, das verhindern soll, dass die Bevölkerung der Unredlichkeit von Politikern auf die Schliche kommt. Hierzu ist es allerdings zu spät. Der Ruf der Polit-Akteure wurde in Jahrzehnten von ihnen selber ruiniert und lässt sich sicher nicht durch erlaubte und verbotene Redewendungen aufbessern.
Die Vorschläge in Sachen Medien und Netzpolitik verharren hinter dem selbstgesteckten Horizont und legen Zeugnis davon ab, dass die Vertreter der etablierten Parteien die digitale Revolution nicht im Ansatz verstanden haben.
Insgesamt verfehlt das Programm sein erklärtes Ziel „mehr Demokratie zu wagen“ und präsentiert sich stattdessen als unzulänglicher Versuch Mitglieder und Wähler zurückzugewinnen, den schwer geschädigten Ruf der Polit-Darsteller aufzuwerten und die alten politischen Verhältnisse auf der Basis weniger und starker Volksparteien wiederherzustellen.
Seit Willy Brandts denkwürdiger Regierungserklärung hat sich in der SPD nicht viel geändert. Der Forderung jedem Bürger die Möglichkeit zu bieten, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken, ist man in den vergangenen 40 Jahren kaum näher gekommen.