Sonntags in Buenos Aires

Allison kommt aus San Francisco, ihre Vorfahren aus Japan – jenes Mosaik, das mich und meinen Bruder schon damals in New York kirre gemacht hat. Wir finden schnell zu einander, denn als sie mir, auf dem Bett sitzend, ihren Namen verrät, antworte ich ›Wie der Song der Pixies?‹ und sie lacht auf und schon reden wir über Musik. Ich mag Frauen mit Musikgeschmack. Ich begleite sie auf eine Reise in die Vergangenheit – auf einen Flohmarkt in San Telmo, einem bezaubernden historischen Viertel, dass für seine phantasievollen Graffiti bekannt ist. Wir lauschen den zahlreichen Straßenmusikern beim Jazz und Tango, amüsieren uns über die Clowns, atmen den Geruch von gebrannten Erdnüssen, gebackenen Empandas und stöbern durch Schallplatten, vergilbte Bücher und Drucke, kramen in antikem Besteck und überlebtem Schmuck. In einem kleinen Lokal bestellen wir uns Empanadas und Kaffee. Und während Allison erzählt, sehe ich Sarah. Ihr Wesen ähnelt ihr, nur ist Allison unsicher, fast schon schüchtern.

Zu Abend darf ich sie auf eine Feier begleiten, zu der sie von einem José aus ihrer Sprachschule eingeladen wurde. Allison ist schön, und normalerweise brennen dann in solch einem Falle alle Sicherungen in mir durch. Und während wir die Straße entlanggehen, denke ich, dass ich sie gerne spüren würde, aber dazu bräuchte ich noch etwas zu trinken und im gleichen Augenblick erschrecke ich über diesen Gedanken: Meine Gefühle – ein Gefängnis ohne Gitter. Und während wir mit dem Taxi nach Belgrano fahren, ich versuche das Taximeter zu ignorieren, denke ich, heute, das wird, wieder einmal, eine teure Nacht.

Wir klingeln. Und warten. Denn wie auch in Danis und ihrer Freunde Häuser, muss der Besuchte immer persönlich die Eingangstür aufschließen. Die Portiere im Entrée scheinen dazu nie befugt. In der Wohnung bemühe ich mich Fassung zu wahren. Allisons Liebreiz relativiert sich – Frauen ich glaube, ich mag sie im Allgemeinen. Man offeriert uns Cuba-Libre, Bier und Fernet-Cola – wir machen keine Gefangenen. Die Wohnung ähnelt einem Palast: Dunkle Holzdielen, Kastenfenster im Jugendstil, hohe stuckverzierte Decken, Kamin, Ledersessel, antike Möbel, teure Weine und Liköre in den Regalen, Flachbildfernseher. Als auch der elegant gekleidete Gastgeber José eintritt, wird mir klar, dass diese Leute Geld haben. Josés Alter ist ihm nicht anzusehen. Er arbeitet als Jurist. Er stellt mir viele Frage über meine Tattoos und erklärt mir, dass er zu wenig Zeit hätte für das, was er liebt: Das Schreiben. Aber Frisch war Architekt, Schnitzler Arzt – und beide hinterließen trotzdem, vielleicht aber auch deswegen, besondere Werke. Das Thema seiner Arbeit ist seine Kindheit. Einer seiner Freund stimmt mich nachdenklich: Er erzählt von seinem Traum, sich mit einer hübschen Frau und Kindern in einem Haus am See inmitten der Natur niederzulassen, am liebsten im Seengebiet um Bariloche, in Nähe der Anden. Ein Wunsch der in vielen von uns tief verwurzelt liegt, ein essentieller, ein natürlicher Wunsch. Ich frage ihn, wie er glaubt seinen Traum zu erreichen. Er denkt nach, kratzt sich am Kinn, erklärt sich – nein, er rechtfertigt sich: ›Weißt du, ich studiere internationales Business. Alles um mich herum dreht sich um Geld, es geht um Geld. Nur darum. Hm, ich … weißt du – du als einer, der denkt und schreibt – der wird das nicht gutheißen … aber ich sehe die Welt durch die Augen eines … eines Kapitalisten, ich muss, nein ich will Geld verdienen, gutes Geld. Es ist nicht der nobelste Beruf, aber …‹ und weiter kann ich ihm nicht folgen, denn ich beginne wieder einmal darüber zu sinnieren. Und ja, erraten hat er mich, denn ich denke, die Welt ist schlecht, weil Menschen wie er so ›denken‹. Mag noch so viel Liebe und Güte in ihm stecken, es wird zum guten Teil auch immer durch Selbstgerechtigkeit motiviert sein. Wir verändern die Welt und erkennen sie in unserer Kinder Hässlichkeit nicht mehr. Die Arbeit – der Tumor unseres Friedens. Der Idealist ist ein Künstler – der Andere ein Spötter der Moral, der den Künstler der Weltfremdheit bezichtigt. Die Menschen beten in der Kathedrale des Kapitals und ich bin hier weil es draußen regnet … und seine Lippen bewegen sich noch immer und ich denke, vor wem er sich rechtfertigen sollte, sollte er selbst sein. Wir haben kaum unsere Becher gelehrt, als die Frauen aufbrechen wollen, denn diese kommen bis zwei Uhr morgens umsonst in den Club. Ich und Allison hadern, entscheiden aber noch hier zu bleiben, mit José und seinem Freund.

Wir sind alle bereits kräftig angetrunken als wir mit einem Taxi zum Club fahren. José verliert seine Kontrolle, behauptet er gebetsmühlenartig. ›Trinkst du eigentlich beim Schreiben?‹ frage ich. Rausch enthemmt, löst die Fesseln des Denkens, der Vernunft. Aber José trinkt nicht. Vor dem Club bekommen wir von einem Mädel Tickets geschenkt, ihre Freunde haben sie versetzt. Wir freuen uns. Ich und Allison jedoch nur, bis wir eingetreten sind. Der Club nennt sich ›Pacha‹. Er wird seinem Namen gerecht. Und die Männer bemerkten zuvor noch, dass der Club salopp wäre. Ist er auch, nur ohne Niveau. Und allmählich zweifle ich an dem angeblich spektakulären Nachtleben Buenos Aires’. Ich und Allison retten uns zur Bar. Dann beschließt die Gruppe die Disco zu wechseln, ›zu viele Männer hier‹ ist der Grund. Gesagt, getan. Diesmal dürfen wir jedoch jeder 70 Pesos abdrücken und als wir dann diese andere Disco eintreten, die im selben Gebäude liegt, sage ich zu Allison ›Du, ich glaube das ist der selbe Raum, nur auf der anderen Seite.

Die zappelnde, zuckende Menge trägt zumeist Sonnenbrillen, und das zur Schau, was sie für sehenswert an ihrem Körper finden. Einige scheinen etwas genommen zu haben, vielleicht tanzt man aber auch so, so, als würde man einen Presslufthammer betätigen. Josés Freundin fragt wer Pillen möchte. Ich verneine. Allison auch. Die anderen bejahen. Und später sitzen Allison und ich im Innenhof dieses Irrenhauses. Sie zeichnet in mein Büchlein und ich schwadroniere über Musik. José wankt zu uns, die betende Maria aus Silber pendelt im Ausschnitt: ›Scheiße, ich verliere die Beherrschung, ich verliere Kontrolle, Scheiße, ich … ‹ Er lässt sich auf den Bordstein fallen, lacht auf und redet weiter, sich wiederholend. Schließlich beruhigt er sich. ›Ich mag diese Clubs nicht, das ist doch alles nur falsch, fuck, das … das ist als würde ich aus meinem Körper schweben … ich … ‹ – ›Man erträgt das nur mit Alkohol und Pillen‹ ergänzt einer seiner Freunde, dessen Lippen das Wort Kippen formen. Dann gehen sie wieder hinein. Allison zeichnet jetzt mich und ich komme – wie immer – von der Musik zur Literatur. Sie möchte, dass ich ihr etwas schreibe. Ich nehme mein Büchlein und schreibe ihr zwei Stücke in englischer Sprache – es sind die einzigen Beiden, die ich auswendig kann, und es gibt sogar Stücke, die, wenn man mir sie vorhalten würde, ich nicht als die meinigen wiedererkennen würde. Beide gefallen ihr und sie fragt, ob alle meine Gedichte so wären. ›Nein, ich schreibe viel über mein Fremdwort, die Liebe – über Erwachsen werden und Kind bleiben.‹ Und ich erinnere mich: Ich fing damals mit dem Lesen gerade an und hatte mir für all diesen neuen Worte ein Vorkabelheft beschaffen. Links trug ich die ›Fremdwörter‹, rechts ihre jeweilige Bedeutung ein. Eines Tages suchte ich dieses Heftchen wieder hervor, denn mit der Zeit kamen immer weniger dieser ungewöhnlichen Worte dazu. Ich suchte nach der letzten beschrieben Seite, fand sie und erschrak: Das Wort ›Liebe‹ stand in der linken Spalte. Es war nicht meine Schrift. Es war die Bauchige Cäcilias. Wir waren damals bereits mehrere Monate nicht mehr zusammen. ›Und warum hast Du es bislang nicht geschafft?‹ – ›Gute Frage. Vielleicht sind sie nicht gut genug, vielleicht war mein Exposee nicht überzeugend …‹ – ›Exposee?‹ – ›Eine Einleitung, eine Art Inhaltsangabe, warum und wieso … die Leute wollen doch immer eine Zusammenfassung haben. Würdest du ein Buch ohne Titel, ohne Namen – ein Buch nur mit weißem Umschlag kaufen?‹›Keine schlechte Idee, oder?‹ – ›Hm … ein Gros der Verlage antwortet noch nicht einmal auf eine Anfrage. Und Lyrik von Autoren ›ohne‹ Namen verkauft sich nicht. Aber ehrlich gesagt, damit möchte ich mich nicht aufreiben. Weitermachen, einfach weitermachen. Die Zeit wird entscheiden.‹ Und in der Tat, vor allen in Zeiten wie diesen: Wir sind überwältigt von Informationen, sind sekündlich gezwungen entscheiden zu müssen, gezwungen uns auf Wesentliches zu konzentrieren. Wir haben Autos und Flugzeuge geschaffen, das Telefon und das Internet – aber Zeit ist noch immer der neidische Bettler, der uns tagtäglich heimsucht, um nach einer Kleinigkeit zu bitten. Und wenn ich manchmal E-Mails von einen meiner Kontakte lese, frage ich mich, wohin uns das alles führt: Ob jemand, in ferner Zukunft, all die Epen von Mann, Márquez, Scholohow oder Tostoi – ihren teilweise Seitenlangen Sätze – noch begreifen wird können? Wer nimmt sich heute Zeit, ein Album am Stück durchzuhören? Mein Bruder entscheidet binnen Sekunden über die Qualität einer Band, und wenn er mir Songs vorstellen möchte, dann spult er oft bis zur ›wichtigen‹ Stelle, und jedes könnte ich dabei zur Decke fahren. Aber ich habe Musik anders ›erforscht‹.

Einige Male noch gehe ich in diese Grotte totalitäre Versprechen nach Satisfaktion, bestelle Bier. Wildfremde Männer in Stakkato-Bewegungen brüllen ›wie geil ist das hier!‹ mir ins Ohr. Und ja, wie im Kloster sieht hier tatsächlich nicht aus, aber diese Musik ist zu unruhig, zu prätentiös, um mich ihr hinzugeben. Die Frauen sind schön, aber Frauen mit Jeans und weißem Unterhemd sind doch die Schönsten. Allison wird ständig an den Arsch gepackt. Sie ignoriert es. Und José und seine Freunde sind nun in völliger Ekstase, sie recken die Hände in die nebelschwangere Höhe, johlen, lachen und flirten … und irgendwie tut er mir leid, dieser José, der vor einer Stunde noch sagte, dass er sich einsam fühlt, hier in Buenos Aires. Gewiss er ist einer, nur einer von zwölf Millionen in dieser Stadt der Städte. Und jeder möchte irgendwie als etwas Einziges, als Individuum wahrgenommen werden. Aber Allison wird mir später erklären, das er schwere persönliche Verluste erleiden musste, und ich werde noch oft an ihn denken, an diesen freundlichen, nach Beziehungen hungernden, Mann denken, der eigentlich nur schreiben will.

Der Morgen graut. Mit dem Taxi fahren ich und Allison zurück. Im Fenster gigantische Hochhäuser, sich verschiebend, verdeckend, überdeckend, aufdeckend – eine in Beton gegossene Sinfonie. Wir rauchen noch eine auf dem Balkon. ›Warum guckst du mich so an?‹ Sie dreht eine Strähne um ihren Finger, und lässt diese vor ein Auge fallen. ›Wie gucke ich denn?‹. Sie lächelt, skeptisch.


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