Vati ließ mich oft nachts allein. Er wusste nichts von meiner Angst, die die über die Zimmerdecke kriechenden Lichtkegel ab und an fahrender Autos verursachten. Die großen Abstände der lichten Erscheinungen ließen sie bedrohlich wirken. Sie schlichen von der linken Zimmerdeckenecke über den riesigen Schlafzimmerschrank, beleuchteten das wüste Chaos aus herumliegenden Zeitungen. Vati las das “Magazin”, den “Eulenspiegel” und das “ND”.
Mutti studierte -weit weg in Berlin . Sie kam nur an den Wochenenden nach Hause.
Wenn Vati noch mal los musste schaute Oma Ritter nach mir. Sie wohnte unter uns. Oma Ritter roch immer nach frisch gebacken Plätzchen, trug eine blaugemusteerte Dederonschürze und war alt, ziemlich alt.Ihre Mutter,Oma Stollberg, war noch älter und lebte mit ihr in einer Wohnung. Überhaupt lebten in unserem Block fast nur alte Leute.
” Träume süss von sauren Gürkchen” hatte Oma Ritter zur guten Nacht gesagt, wie immer, und dann die Tür von außen zugezogen. Ich mochte keine sauren Gürkchen und auch nicht den Kürbis den sie süß sauer einlegte und den ich manchmal probieren musste. Ich hatte auch eine Oma, noch weiter weg als Mutti, die schickte zu Weihnachtern Haribo und Kaugummistangen.
Ob ich jetzt noch was essen durfte, aber dann musste ich das schützende Bett verlassen. Alles schlief, nur die Lichtkegel nicht und ich….und Papa irgendwo da draußen.
“Dich konnte man gut allein lassen, du warst so ein liebes Kind, sagte mein Vater oft zu mir. Ich lasse meine Kinder nachts nie allein….
Eines nachts- ich war noch wach, kam Vati heim. Geruch von Wein und Rauch.” Die Nacht ist schon auf dem Weg in den Morgen, warum schläfst du nicht, Töchterchen?”
Angst müsse man überwinden, erklärte er mir. Zündete eine Kerze an. Die Nacht war jetzt warm und hell. Ich kuschelte mich in Vatis Arm, lauschte dem was er sprach.Und erzählen konnte er! Mit seiner tiefen vollen Stimme füllte er den Raum, verjagte die Geister, war Vati, der einzige Vati , der stärkste klügste, mutigste Vati. In diesen frühen Morgenstunden erzählte er die Geschichte der jungen russischen Widerstandskämpferin, Soja Kosmodemjanskaja, die obwohl so jung, mutig genug war sich ins Hinterland schicken zu lassen. “Es war Krieg Töchterchen und sie wollte nicht tatenlos zusehen wie Hitlerdeutschland alles zerstörte was ihr lieb und teuer war. Sie wurde gefasst.Man hat sie verhört, stundenlang nachts barfuß im Schnee stehen lassen. Sie wollten die Namen der anderen Partisanen. Aber sie verriet niemanden.”Bevor sie gehenkt wurde, hielt sie eine Rede.Eine flammende Rede über die Notwendigkeit des Kampfes und das Glück für sein Volk sterben zu dürfen.”
Die Dichte dieser Erzählung lässt sich schwer in Worte fassen. Atemlos rief ich am Ende aus : “Das könnte ich nie!”
“Doch das könntest du, wenn es nötig wäre.”
Später, ich war bereits in der ersten Klasse, sollte meine Lehrerin(ein Drachen!) sich bei meiner Mutter beschweren, dass ich immer mit dreckiger Kleidung in die Schule käme. “Was sollte ich machen, sagte Mutti, du warst immer ordentlich angezogen, aber du bist vor der Schule noch auf den Spielplatz gegangen. Ich war doch schon los zur Arbeit. Ich habe dir dann Wechselkleidung mitgegeben.”
Sie wusste nichts von meinem geheimen Partisanentraining. Das flog erst auf, als sie mich fragte, warum meine Haut so rauh sei im Gesicht. Ich würde mich nicht eincremen, erklärte ich ihr, weil ich meine Haut abhärten wolle. Partisanen hätten im Einsatz keine Zeit für sowas . So war das. Eincremen musste ich mich nun doch, der Auftrag aber entfaltete seine Wirkung, wenn auch Papa nicht mehr bei uns wohnte. Nahezu jeden Abend lief ich 2000m auf der Aschenbahn des schuleigenen Sportplatzes, auch bei Eis und Schnee mit vereisten Wimpern,allein, da war ich zwischen 10-12 Jahre alt. Ich trainierte mich bis ins Leistungstraining .
Noch bis ins junge Erwachsenenalter wollte ich nach Nicaragua, weil man da noch für das Gute kämpfen konnte. Das Brennen für das Gute, für unseren sozialistischen Staat, erfuhr in der Lehre eine erste Abkühlung. Da war Ich war Kandiadat der SED geworden , trat aber nicht ein, weil die Genossen mir meine noch recht unbedarften Fragen nicht beantworten konnten. Aber das ist eine andere Geschichte.