Mit Karla im Zug gesessen, wie so oft im vergangenen Jahr. Mein Arbeitstag war anstrengend, es ist früher Nachmittag. Kalter Nieselregen. Ich bin müde.
Karla ist nicht müde. Sie war im Rahmen des Unterrichts in einer Ausstellung gewesen. Ich habe sie vom Zug abgeholt, um in den nächsten Zug umzusteigen. Wir wollen nach Hamburg. Jetzt sitzen wir in einem jener Regionalzüge in denen es meist nach Essen und verbrannten Plastik riecht. Wir fahren lieber mit den roten als mit den grünen Zügen. Die Grünen haben Steckdosen, sind aber störanfällig und unpünktlich. Selbst die Automatenstimme ruft autoritär mitten in eine Ansage des Zugpersonals: „Störung!“ Die Fahrgäste amüsiert’s.
Karla hat sich wie immer in einem Viererabteil niedergelassen, Tasche, Jacke, Schal und Mütze verteilt. Ihr Handy hat kein Akku.
Deshalb spricht sie mit mir in einem atemberaubenden Tempo, während sie die Bratkartoffeln vom Imbiss isst. „Bitte ohne Speck!“, hatte sie gesagt und: „Ich bin Vegetarier“, hinzugefügt.
„Ich mochte die Bilder nicht, ich konnte da nichts drin sehen. Alle konnten etwas dazu sagen. Du glaubst gar nicht was manche darin gesehen haben. Die waren wahrscheinlich mit ihren Eltern schon mal dort. Aber ihr geht mit uns nie in Ausstellungen“, sagt sie ärgerlich.
Wie hieß der denn?
Sie nannte mir den Namen. Ich kannte ihn nicht und gab ihn in die Suchmaschine ein. „Ach das ist doch aber schön!“
“ Es wurde gesagt, er war „Moralist.
Ab wann nennt man einen Moralisten einen Moralist?“
Im Nebenabteil sitzt eine Frau, etwas älter als ich. Sie beobachtet mit hellwachen Blick. Ich laviere, suche nach Worten, umschreibe.
„Gut, das habe ich verstanden“, sagt Karla leicht gereizt. „Aber kann Kunst von einem Moralisten Kunst sein?“ Ich verstehe Karlas Ansinnen, sie hat die Welt gern klar aufgeteilt in Schwarz und Weiß.
Ich bin müde, die Gedanken lassen sich nicht zentrieren. Was stellt das Kind auch für Fragen.
„Gibt da verschiedene Ansichten. Ich persönlich glaube, Kunst muss frei sein, sonst ist sie keine Kunst. In der DDR in der ich aufgewachsen bin, wie du weißt, gab es viele Skulpturen, Bilder die in Auftrag gegeben wurden. Ich fand die trotzdem oft schön. Das ging mir mit den Büchern anders, da stand die Interpretation schon mit dabei. Brr. Ich erzähle Karla etwas vom Aufwachsen in der DDR, Fahnenapellen, Pionier- und FDJDler -dasein, Indoktrination und freiem Denken.
„Ich lese jetzt“, sagt sie unwirsch.
Karla greift zu: „Hallo Mister Gott hier spricht Anna“, sie bekam es unlängst als Wichtelgeschenk.
Ich greife zu Connie Palmen: “ Du sagst es.“
Der Zug fährt los.
„Was bedeutet : „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose?“
Vermutlich meint es, dass der Baum da draussen, also, den kannst du schön finden und ich finde ihn nicht schön, aber dem Baum ist das egal. Er ist unabhängig davon, wie wir ihn finden.
„Wahnsinn wie diese Anna denkt, das mit dem Engel und so. Auf solche Gedanken würde ich gar nicht kommen, aber es ist mir jetzt zu anstrengend. Ich les es später. “
Ich nicke.
Karla schlägt das Buch zu, kramt in ihrer Tasche und holt das Mathebuch raus. Sie macht nie Hausaufgaben im Zug. Eigentlich, aber das Handy hat keinen Akku mehr.
„Mama?“
„Ja“.
„Ich kann die Winkelberechnung nicht.“
Ich auch nicht, aber das will ich nicht zugeben. Stattdessen schaue ich interessiert aus dem Fenster. Weiden, Pferde, Regenschwaden, Grau.
„Frag Papa nachher, der kann Mathe.“
„Das ist mir zu spät.“
„Also wenn der Winkel…“ Habt ihr nicht vielleicht etwas in Bio auf?“, frage ich allmählich verzweifelt. Ich klappe mein Buch zu. „Ehrlich Karla, in Mathe war ich eine Niete.“ Ich wende meinen Blick ab, hin zu Weiden, Kühen und Regenschwaden.
„Soll ich dir helfen?“ Die Frau von nebenan, später erfahren wir sie heißt Simone, sieht zu Karla herüber. Ich sehe selten Menschen im Zug oder auch irgendwo anders, die so eine Lebendigkeit ausstrahlen. Sie wirkt wach, präsent, ganz anwesend, lebendig. Karla lässt kurz einen scannenden Blick über sie gleiten, bevor sie entscheidet. „Ja, das wäre nett.“
Simone kommt herüber, stellt sich kurz vor und beugt sich dann mit Karla gemeinsam über das Mathematikbuch. Sie erklärt sehr gut, unaufgeregt, logisch. Auch ich erinnere mich jetzt wieder.
Fast am Ende der Fahrt hält der Zug in Dammtor, noch drei Minuten bis zum Zielbahnhof. Karla packt das Mathebuch ein, ich trage ihr (wie immer) die Mütze hinterher. Der Zug ist heute ungewöhnlich pünktlich. Karla erzählt von sämtlichen Verspätungen und Pannen des Jahres. Ich schreibe derweil einen Zettel: „Das ist meine Emailadresse. Wenn sie wollen melden sie sich, ich würde mich gern revanchieren.“
„Machst du eigentlich etwas Besonderes in Hamburg?“ Karla lächelt verschmitzt, schaut zu mir, ich zucke mit den Schultern. Es ist ihre Entscheidung was sie sagen will und was nicht.
“ Kann man so sagen, glaube ich“ und lächelt immer noch verschmitzt. „Was machen sie denn in Hamburg?“
„Nur durchfahren, ich habe meine Schwester in Kiel abgepasst, als sie auf dem Weg nach Norwegen war. Mein Zug hatte Verspätung. Es blieb leider nur eine Stunde bis sie auf der Colorline eincheckte.
„Danke“, sagt Karla und: „Die Züge haben immer Verspätung. Sie waren meine Rettung, meine Matherettung.“ Simone winkt zum Abschied und will den Zettel auseinanderfalten.
„Erst später lesen.“ Ich winke auch.
Wir haben uns wirklich an einem der letzten Tage des Jahres noch einmal in Hamburg. getroffen. Sie kam mit ihrer Tochter aus Münster. Der Zug hatte Verspätung. Es blieb noch Zeit für einen Kaffee bevor es zu einem besonderen Abend mit einem weisen, fröhlichen, musikalischen Feuerwerk ging . Aber dieses Ereignis, wäre einen weiteren Blogpost wert. Ich hoffe, dass dieser Abend nur ein Auftakt gewesen ist.