sie – #4

drei ganze tage vergingen und der fleck unter stellas rechtem auge schien so langsam zu verblassen. es war erst kurz vor 8.00 uhr als stella ihre wohnung im dritten stock verliess, die tür hinter sich zuzog und ihre sonnenbrille aufsetzte, obwohl es noch immer regnete. wie gerne wäre sie im bett geblieben, hätte den ganzen tag nichts anderes gemacht als am fenster zu sitzen und zu rauchen. doch das leben ist nunmal kein spielplatz, die verpflichtungen liessen nicht länger auf sich warten. verdammtes studentenleben. 

sie eilte auf die strasse und holte sich einen milchkaffee in der bäckerei um die ecke. die etwas schusselige verkäuferin kannte sie schon und so waren nicht viele worte nötig, um nur kurze zeit später einen kaffee mit extra viel milch und einem schuss vanillearoma in der hand zu halten.

etwas ausser atem erreichte stella die haltestelle, an der sie seit zwei jahren jeden morgen auf die strassenbahn wartete. sie quetschte sich mit etwa zweiundsiebzig anderen leuten unter das kleine, löcherige dach. stella war so sehr in gedanken versunken, dass sie gar nicht bemerkte, wie ein junger mann sich ihr näherte. erst als sie den blick hob, erkannte sie, wer eigentlich schon die längste zeit vor ihr stand.

“hey…”, sagte noah ganz verlegen, fast etwas vorsichtig und so, als würde er sich für etwas entschuldigen wollen.
sie verdrehte die augen, was er natürlich nicht sehen konnte.
“hey!”, erwiderte stella und ihr tonfall fiel freundlicher aus, als sie es eigentlich geplant hatte. ein klassischer smalltalk zwischen zwei menschen, die sich schon mehrmals im leben gesehen, aber nie gross was miteinander zu tun gehabt hatten, folgte. und dann der unangenehme teil – die peinliche stille.

stella drehte den kopf zur seite und hielt ausschau nach der strassenbahn. aber wie immer, wenn man es eilig hat oder jemandem ausweichen will, kam sie nicht.
“was ist das denn?”, fragte noah empört und vielleicht etwas zu laut. einige köpfe drehten sich in die richtung der beiden.

stella reagierte schnell und hielt sich schützend die hand vor das rechte auge.
“was interessiert dich das denn?!”, zischte sie zwischen den zähnen durch.
noah packte sie am ärmel ihrer lederjacke und zog sie ein stück zur seite.
er hielt mit dem zeigefinger und dem daumen ihr kinn fest und schaute sich den blauen fleck etwas genauer an.

“wer hat dir das angetan?!”
“hast du nichts besseres zu tun, als dich in das leben anderer einzumischen? musst du nicht arbeiten oder sowas?”
noah verkniff sich das lachen.
“ich bin zahnarztsohn, schon vergessen?”
“und drogendealer.”

er seufzte und schielte zur seite, um sicher zu gehen, dass das niemand gehört hatte.
“komm, ich lade dich auf einen richtigen kaffee ein!”, sagte er und deutete auf den bereits kaltgewordenen milchkaffee im pappbecher.
“ich kann nicht, ich muss zu einer vorlesung!”, antwortete stella stur.
“die werden schon nichts erzählen, das du nicht schon lange weisst, frau immer-gute-noten.

es fiel ihr nicht schwer, seine einladung anzunehmen, schliesslich gab es weitaus besseres, als sich an einem dienstagmorgen in einen prallgefüllten vorlesungssaal zu setzen. noah spannte seinen schirm auf und sie liefen die strasse runter. die stimmung zwischen den beiden wurde immer lockerer und vertrauter. beinahe so, als würden sie sich schon ihr ganzes leben lang kennen.


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