In Wien leben etwa 300.000 SerbInnen, sodass sich Premierminister Ivica Dačić, wenn es um den geplanten EU-Beitritt Serbiens geht, auch an Landsleute in der Diaspora wendet. Bei seinem Vortrag im Renner-Institut der SozialdemokratInnen, einer Schwesterpartei der serbischen Sozialisten, ging es in Sachen EU immer auch um den Kosovo.
Dačić ist seit 2006 Vorsitzender der Sozialistischen Partei und damit Nachfolger von Slobodan Milosevic, zu dessen Zeiten er als Parteisprecher fungierte. Die Sozialisten haben bei der letzten Wahl 2012 ihren Stimmenanteil auf 15% verdoppeln können und stellen in einer Koalition den Premierminister, der zugleich Innenminister ist. Dačić sprach vor allem zu den Beitrittsverhandlungen Serbiens mit der EU, die er als wichtigsten Partner seines Landes bezeichnete.
Gerhard Marchl vom Renner-Institut und Ivica DačićSein Vortrag erinnerte daher auch stark daran, wie sich einst österreichische PolitikerInnen als “EU-MusterschülerInnen” erweisen wollten – jedenfalls gibt es auf den ersten Blick einige Parallelen. Dabei zog Dačić auch die vielen SerbInnen in der Diaspora in EU-Staaten heran, die ja den Menschen in der Heimat wohl kaum ihren eigenen Lebensstandard vorenthalten wollen. Österreich wird auch nach dem Zerfall Jugoslawiens, als Nachbar betrachtet, ohne es geografisch betrachtet noch zu sein. “Serbien ist auf die EU angewiesen”, betonte Dačić, im Bereich Soziales, Wirtschaft, Kultur und Tourismus. Er erhofft sich unter anderem wirtschaftlichen Aufschwung von der Erweiterung der Union “auf unsere Regionen”.
EU als Vorbild?
Die EU ist “ein Modell für die Reform des Westbalkan”, gerade als “erfolgreiches Beispiel eines politischen Projektes”, das für Frieden und Wohlstand sorgt. Dačić ist klar, dass auch in der EU nicht alles rosig ist, denn die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise bedeuten auch für die Union Stagnation und Herausforderungen. Serbien und andere Balkanstaaten sind auch untereinander wirtschaftlich schlecht vernetzt, sie entwickeln wenig Geschäftsbeziehungen ausserhalb der EU.
Der Status als Beitrittskandidat hat, ist Dačić überzeugt, auch starke psychologische Auswirkungen in der öffentlichen Wahrnehmung. Schliesslich gilt es, den Menschen Hoffnung zu geben etwa angesichts einer Arbeitslosigkeit von 25%. Serbien wünscht ausdrücklich Beziehungen zur EU als “Hauptpartner”, ist jedoch traditionell auch Russland eng verbunden.
Dačić erwartet sich den Beginn der Vorbereitung von Beitrittsverhandlungen gegen Ende der irischen Ratspräsidentschaft im Sommer. Natürlich steht seitens der EU die Normalisierung der Beziehungen zum Kosovo ganz oben auf der Agenda. Serbien muss ausserdem Fortschritte bei Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung, Medienfreiheit, Gleichbehandlung, dem Umgang mit Minderheiten und wirtschaftlicher Liberalisierung vorweisen.
Österreich wird als eines der Länder betrachtet, die die serbischen Bemühungen unterstützen, da es immer für eine Erweiterung der EU am Westbalkan eingetreten ist. Hingegen haben die serbischen Verhandler bei Deutschland den Eindruck, dass immer Neues verlangt wird, kaum dass man eine der Bedingungen schon vor den offiziellen Verhandlungen erfüllt hat. Die Integration Serbiens ist aber “ausschlaggebend für die Integration der gesamten Region”, betont Dačić. Von der EU verlangt man, im Integrationsprozess als gleichberechtigter Partner behandelt zu werden. Nicht alle Vertreter Serbiens haben jedoch in der Annäherung an die EU immer einen aufrichtigen Eindruck hinterlassen, meint Dačić kritisch.
Immer neue Bedingungen
Seitens der Mitglieder der Union ist es aber auch nicht fair, mit immer neuen Bedingungen zu kommen. Serbien hat seinerseits dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag alle Angeklagten ausgeliefert und ist schon wegen der Serben im Kosovo an politischen Lösungen interessiert. “Die EU soll auch erfüllen, was sie selbst in Dokumenten festhält”, sagt Dačić. Für Europa ist es auch allgemein nicht gut, wenn “Grenzen wie vor hunderten Jahren verlaufen”, denn dies bedeutet, Ländern wie zu Zeiten des osmanischen Reiches anderen Einflüssen zu überlassen.
Dačić lädt Österreich ein, stärker am Balkan präsent zu sein, da unser Land “schon immer ein regionaler Faktor” war. Freilich gibt es in Serbien auch Beitrittsgegner, die “ein bisschen recht haben”. Und manche gehen dazu über, Ivica Dačić und seinem Vizepremier Aleksandar Vucic Todesdrohungen etwa als SMS zu schicken, nachdem die beiden in Brüssel mit dem kosovarischen Regierungschef Hashim Thaci eine Lösung für den Nordkosovo vereinbart haben.
Austrittsoption?
Den Beitritt zur EU sieht Dačić pragmatisch: “Wir können ja wieder austreten, wenn es uns dann nicht gutgeht.” Immerhin hat Serbien 24 Jahre nach 1989 nur 65% des BIP von damals. “Es kann ja nicht sein, dass es vielleicht soweit kommt, dass Albanien uns als Beispiel für einen Beitritt zur EU dient”, sagt er. Das Bild Serbiens habe sich gewandelt, meint Dačić, wohl bezogen darauf, wie uns sein Land seit Anfang der 1990er Jahre in unseren Massenmedien präsentiert wurde.
Von der EinwohnerInnenzahl ist es ähnlich gross wie Österreich, verfügt aber nur über ein Zehntel des BIP, die Menschen verdienen im Schnitt umgerechnet 360 Euro. Rückblickend betrachtet hatte Serbien zwei vertane Chancen, einerseits durch das Dayton-Abkommen, andererseits nach dem Sturz von Milosevic. Dačić betont aber, dass sein Land ein “stolzes Land” sei. In einer Publikumsrunde kommen zuerst zufällig gerade ein paar “Nicht-Serben” zu Wort, von denen der erste belehrend auftritt.
Er unterstelllt den Menschen in Serbien, sich leicht emotionalisieren zu lassen (und kennt offenbar den Effekt “typisch österreichischer” Medienberichterstattung nicht) und verweist warnend auf Ungarn, wo man auch dachte, der EU sei ein demokratischer Staat beigetreten. Dačić meint, Österreich habe “sicher etwas Ähnliches durchgemacht” in einem langwierigen Beitrittsprozess, der jedoch in “normalen Verhandlungen” abgelaufen ist.
Geschaffte Tatsachen akzeptieren
Es geht bei Serbien nicht nur um Quoten für Landwirtschaft und Fischerei, “sondern auch um einen Teil unseres Territoriums”. Dačić ist realistisch genug, die Entwicklung seit dem Angriff der NATO auf sein Land 1999 nicht rückgängig machen zu wollen, betont aber die mythologische und kulturelle Bedeutung des Kosovo für Serbien.
Gerhard Marchl vom Renner-Institut und Ivica DačićDenn dieses Gebiet war für die Entstehung Serbiens wichtig, hier stehen die ältesten serbisch-orthodoxen Kirchen aus dem 12. Jahrhundert. Der Sitz des serbischen Patriarchats ist im Kosovo, aus dem die Serben vom osmanischen Reich vertrieben wurden. Später wurden 200.000 Serben von Albanern vertrieben, die mit den den Nazis kollaborierten.
Systematische Vertreibungen gab es auch beim Zerfall Jugoslawiens, etwa von Serben aus Kroatien, doch dies wurde in unseren Medien mehr oder weniger verschwiegen. Bedenkt man, dass Serbien hunderttausende Flüchtlinge aufnehmen musste, durch Embargo und Krieg geschwächt, geächtet wurde, dann erscheint der Weg in die EU als Allheilmittel durchaus verständlich. Ich hätte gerne gefragt, wie es Dačić damit geht, einer Union beizutreten, in der die Mehrheit der Mitglieder der NATO angehört. Allerdings kamen nur wenige mit ihren Fragen dran, und beantworten kann man es sich auch selbst, da eine gewisse Ambivalenz logisch wäre.
Serbien erkennt die Macht des Faktischen an, was auch die Appelle zeigen, dass man doch die Bedeutung des Kosovo verstehen möge. Für sich genommen und ohne Vorgeschichte würden die Argumente für einen Beitritt natürlich auch ihre Richtigkeit haben – so aber findet ein Land, das geschwächt wurde, den Weg in die EU.
Von Anfang an war die Berichterstattung zum Zerfall Jugoslawiens einseitig, wie etwa Alexander Dorin unter Bezug auf kritische Veröffentlichungen in seinem im Eigenverlag herausgebenenen Buch “In unseren Himmeln kreuzt der ferne Gott” zeigt. Es war der Holocaustleugner Franjo Tudjman, der mit Morden und Vertreibungen begann – die Opfer waren allerdings Serben, was den Medien und dem Westen nicht ins Konzept passte.
Was Medien verschwiegen
Weil der damalige österreichische Aussenminister Alois Mock Tudjman nicht offiziell empfangen konnte, lud man diesen zu einem Forum ins Wiener Haus der Industrie ein, in dem einst über den österreichischen Staatsvertrag verhandelt wurde. Mock war, wie auch die grüne Politikerin Terezija Stoisits, für die Anerkennung des von Tudjman ausgerufenen unabhängigen Kroatien.
Der Vorarlberger Unternehmer Kurt Köpruner kam beruflich nach Jugoslawien und erfuhr, da er mit möglichst vielen Menschen redete, dass das medial gezeichnete Bild von den Konflikten falsch ist. Er war fassungslos, als ihm von der “Dalmatiner Kristallnacht” in Zadar berichtet wurde, weil er annahm, es hätte doch in deutschen und österreichischen Zeitungen stehen müssen, wenn gezielt Geschäfte und Häuser von Serben zerstört werden.
Die veröffentlichte Meinung ist “unvollständig, einseitig, wahrheitswidrig”, wie seine Recherchen ergaben, die er im Buch “Reisen in das Land der Kriege” festhielt. Köpruner verweist etwa auf eine Behauptung unter Bezugnahme auf das US State Department, wonach die Grausamkeit der Serben alles in den Schatten stelle, was seit der Nazizeit passiert ist. Dies soll “bewiesen” werden mit einem furchtbaren Foto von einem angeblichen Serbenstiefel auf dem Kopf eines ermordeten Bosniers – der Stiefel gehörte aber zu einem Mujahedin und der Ermordete war Serbe.
Als Österreicher war Köpruner entsetzt über die SPÖ, die Wolfgang Petritsch bei den Nationalratswahlen 2002 an die Spitze der Wiener Liste setzte: “Er gilt derzeit als der international erfolgreichste und angesehenste Außenpolitiker des Landes. Sollten sich bei der Wahl die Mehrheitsverhältnisse ändern, ist ihm die Bestellung zum Außenminister sicher. Wo hat sich Wolfgang Petritsch diesen guten Ruf erworben? Auf dem Balkan. Genauer gesagt: in dem Land, das vor zwölf Jahren noch Jugoslawien hieß. Er war österreichischer Botschafter in Belgrad, als er im Oktober 1998 zum Sonderbeauftragten der Europäischen Union für den Kosovo ernannt wurde.
Washingtons Erfüllungsgehilfe
Allein schon die Wahl in eine so wichtige EU-Funktion stellte eine hohe Auszeichnung dar, doch Petritsch erfüllte diese Aufgabe in einer Weise, die ihn in den Augen der Mächtigen dieser Welt für noch weit höhere Posten qualifizierte. Sein Geniestreich hat einen schillernden Namen: UCK. Diese Organisation war erstmals 1996 in die internationalen Schlagzeilen gelangt, und zwar als Terrorbande im Kosovo, die ihre ultranationalistischen und rassistischen Ziele – ein ethnisch gesäuberter, rein albanischer Kosovo – mit Mordanschlägen verfolgte und mit Drogen- und Waffenhandel finanzierte.
Auch viele Kosovo-Albaner fielen dem UCK-Terror zum Opfer; selbst der vom Westen als Balkan-Gandhi hofierte Albanerführer Ibrahim Rugova fand sich rasch auf ihren Todeslisten. Die ‘Friedenskonferenz’ von Rambouillet war indes von vornherein nichts anderes als der Versuch, die zu diesem Zeitpunkt längst beschlossenen US-geführten NATO-Luftangriffe gegen Serbien ein wenig vom Makel der Völkerrechtswidrigkeit zu befreien. Die Bombenangriffe lösten kein einziges Problem, kosteten aber tausende Unschuldige das Leben und beraubten Millionen auf Dauer ihrer Existenzgrundlagen – und werden doch als Erfolgsstory gefeiert. Und die UCK-Führer, pardon: Führungspersönlichkeiten erhielten, was man ihnen in Rambouillet offenbar für ihr Wohlverhalten versprochen hatte: die Macht über den Kosovo, den sie unter den Augen der NATO in ein Inferno verwandelten.
Bis Heute sind dort Mord und Totschlag, Drogen-, Waffen- und Kinderhandel an der Tagesordnung, und der Rassismus ist allgegenwärtig. In dieser Epoche, in der die Mächtigen ihre Interessen mit gesetzloser Androhung von Bombenangriffen verfolgen und diese Drohungen auch in die Tat umzusetzen, scheint die öffentliche Meinung zur beliebig manipulierbaren Masse geworden zu sein. Dafür werden Politiker gebraucht, die ihr Handwerk verstehen und auf die Verlaß ist, Leute wie Wolfgang Petritsch, der kurz nach Rambouillet zum UN-Hochkommissar für Bosnien-Herzegowina bestellt wurde.
Auch dort hat er seine Aufgabe erfüllt, und niemand braucht daran zu zweifeln, daß er sie als österreichischer Außenminister gleichfalls erfüllen wird.” Wie wir wissen, blieb die SPÖ nach der Wahl in Opposition, doch viele erinnern sich daran, wie Petritsch den UCK-Führer und nunmehrigen Präsidenten des Kosovo Hashim Thaci in Wien hofierte, während Bomben auf Serbien fielen.
Auch die Erfindung des “Hufeisenplans” zur ethnischen Säuberung des Kosovo spielte eine Rolle bei der Legitimierung des NATO-Angriffes. Das deutsche Auswärtige Amt bestätigte zugleich, dass es im März 1999 keine Vertreibung von Albanern aus dem Kosovo gab, wie IALANA (Juristen gegen ABC-Waffen) feststellte.
Der frühere kanadische Botschafter für Jugoslawien, Bulgarien und Albanien, James Bisset, meinte zur UCK (KLA): “Bin Laden and radical Muslim groups have been deeply involved in the Balkans since the civil wars in Bosnia from 1992 to 1995. Despite a UN arms embargo and with the knowledge and support of the United States, arms, ammunition and thousands of Mujahideen fighters were smuggled into Bosnia to help the Muslims. Many remain in Bosnia today and are recognized as a serious threat to Western forces there. The Bosnian government is said to have presented bin Laden with a Bosnian passport in recognition of his contribution to their cause. He and his al-Qaeda network were also active in Kosovo, and KLA members trained in his camps in Afghanistan and Albania.”
Zu den “Fans” des Kosovokrieges gehörten natürlich auch die Grünen, nicht nur, weil bei den deutschen Nachbarn der grüne Aussenminister heuchlerisch aus Auschwitz ableitete, man müsse nun Serbien bombardieren – ein Land, in dem Juden einst Zuflucht fanden, und später Serben als Opfer ethnischer Säuberungen in Bosnien und Kroatien. Einige Menschen traten damals aus den österreichischen Grünen aus, wohl noch davon überrascht, dass eine angeblich pazifistische Partei in einem neutralen Land einen NATO-Krieg unterstützen “muss”.
Innerhalb der Sozialdemokratie unter dem damaligen Parteichef Alfred Gusenbauer signalisierten Petritschs Karrierechancen, dass ebenfalls NATO-Kompatibilität erwartet wird. Wer damit nicht aufwarten kann, wie etwa der rote “Betriebsunfall” Norbert Darabos, ist massivem Druck ausgesetzt. Vom Verlust jeglicher Haltung im Kosovokrieg zieht sich ein roter Faden in die Gegenwart, als die Partei dazu herhalten musste, ein sogenanntes “Profiheer” zu fordern, das auf Kampfeinsätze und NATO-Beitritt abzielte, was man freilich nicht offen zugab, sondern verschleierte.
Die serbischen Sozialisten können als eine Art Schwesterpartei der SPÖ sicher Unterstützung in der EU erwarten, jedoch zu vorgegebenen Kriterien. Der komplexe Ablauf von Zerfall Jugoslawiens und Balkankrieg lässt eine kurze Korrektur medial geschaffener Bilder nicht zu; dies müsste schon jede/r für sich selbst klären, da es genug kritische Literatur gibt, weil manche doch nicht lockergelassen haben.
Man denke etwa an Peter Handke, die Journalistin Mira Beham, natürlich auch Kurt Köpruner oder Hannes Hofbauer, jedoch auch an Thomas Deichmann mit seiner Zeitschrift Novo. Serbien wird von der EU – und ihren Mitgliedern – wohl erst dann wirklich als Partner betrachtet, wenn Geschichte korrekt geschrieben wird. So aber klingt selbst in den Aussagen von Premier Dačić durch, dass Serbien als ein Land gilt, das erst Bewährungsproben bestehen muss.