Selbstorganisation persönlich definiert

Was hat Agilität mit Selbstorganisation zu tun? Diese Frage stellte sich gerade in einem kleinen Twittergespräch mit Michel Löhr aka @1ohr.
Mein Standpunkt: Agilität und Selbstorganisation sind orthogonal.
Selbstorganisation hat etwas mit der Führung einer Organisation zu tun. Agilität hat etwas mit Art der Herstellung von etwas zu tun.
Agil ist die Herstellung für mich, sobald sie inkrementell ist, der Hersteller darauf bedacht ist, zu lernen (konkret und auf der Meta-Ebene), und die Kommunikation zwischen den Beteiligten eng ist. Das halte ich für eine pragmatische Definition von Agilität. Nicht zu eng, dass nur die 100%ige Einhaltung eines Vorgehensmodells adelt, aber auch nicht zu weit, als dass sie jeder als agil nennen könnte. Ausführlicher habe ich das in einem früheren Artikel erklärt.
Soweit die Agilität. Aber was ist mit der Selbstorganisation? Steckt die notwendig in der Agilität drin? Ich denke, nein. Weder inkrementelle Lieferung, noch das Lernen und auch nicht eine engere Kommunikation setzen Selbstorganisation voraus. Das alles mag mit Selbstorganisation noch besser gehen, doch sie ist für mich nicht notwendig und schon gar nicht hinreichend für Agilität [1].
Das sage ich natürlich mit einer Vorstellung von Selbstorganisation im Hinterkopf.

Soziale Systeme

Der Begriff "Selbstorganisation" beschwört natürlich einige Bilder herauf. Für manche ist dann die Anarchie nicht mehr fern. "Wenn jeder das machen kann, was er will, wo kommen wir denn dann hin?" Aber ist das Selbstorganisation, wenn jeder machen kann, was er will?
Natürlich nicht. Denn wenn jeder machen kann, was er will, dann gibt es keine Organisation im Sinne eines Zusammenschlusses von mehreren Menschen. Selbstorganisation ist nur ein Thema für soziale Systeme. Selbstorganisation setzt also voraus, dass mehrere Menschen zusammenkommen. Der Begriff bezieht sich immer auf einen Menschenansammlung.
Aber auch das ist noch zuwenig. Denn eine Menschenansammlung gibt es an jeder Bushaltestelle, wo Leute zusammen stehen. Die gehören aber nicht zusammen. Da verfolgt jeder seine eigenen Ziele, auch wenn sie im Sinne der Busbenutzung und des Wunsches, verlässlich und sicher befördert zu werden, eine Gemeinschaft sind.
Selbstorganisation ist nur ein Thema bei zusammengehörigen Menschen. Es braucht ein Ziel, dem die Menschen aktiv zustreben. Dadurch wird aus einer Gemeinschaft erst eine Gruppe.
Eine Gemeinschaft wird zwar durch ein gemeinsames Interesse charakterisiert, doch das wird von der Gemeinschaft noch nicht gemeinschaftlich aktiv verfolgt. Die Gemeinschaft überlässt das jemandem anderen (z.B. Busfahrer, Priester) oder jeder verfolgt selbst das Interesse nach seinem Gusto (z.B. Briefmarkensammler, Glaubensanhänger).
Eine Gruppe hingegen hat einen außen liegenden Zweck. Auf den hin wird sie geführt. Ebenfalls von außen. Deshalb ist die kleinste Einheit bei der Bundeswehr eine Gruppe mit einem Gruppenführer.
Aber eine Gruppe ist noch nicht selbstorganisiert. Sie ist geradezu das Gegenteil. Sie wird von jemandem anderen geführt, d.h. organisiert. Wer was wann und vielleicht auch wie tun soll, wird angesagt. Das ist auf einer Baustelle dasselbe, wenn der Polier die Maurer anweist. Das ist auch im Operationssaal so, wenn der Operateur "Schwester, Tupfer, bitte." sagt.
Gruppen entstehen immer dann, wenn Menschen koordiniert werden. Wenn einer die Richtung weist, die sie laufen sollen.
Das ist nicht per se gut oder schlecht. Das ist einfach nur ein Mittel, um ein Ergebnis mit mehreren Menschen zu erreichen.
Sind solche Gruppen denn nicht aber Teams?
Im landläufigen Sprachgebrauch ist das so. Aber für mich braucht es mehr, um aus einer Gruppe ein Team zu machen.
Ein Team ist eine Gruppe, bei das äußere Ziel zu einem gemeinschaftlichen inneren Ziel geworden ist. Und bei dem das Ziel in Selbstorganisation angestrebt wird.
Teams sind in Bezug auf ein Ergebnis intrinsisch motiviert. Das macht es ja so schwer, echte Teams herzustellen. Da ist nämlich Führungskunst auf höherer Ebene gefragt.
Und Teams entscheiden anschließend zumindest alles in Bezug auf das gemeinschaftliche Ergebnis Relevante selbst. Sie entscheiden über Mittel, Wege, Zeit - in einem gewissen vorgegebenen Rahmen. Teams sind insofern wie ein Marschflugkörper: Sie werden mit einer Aufgabe und einem Sack voll Ressourcen abgeschossen - und bewegen sich danach selbstständig ins Ziel. Dass sie dabei auf ihre Umwelt reagieren, tut dem keinen Abbruch. Denn sie entscheiden über ihre Reaktion.

Selbstorganisation

Jetzt habe ich gesagt, wo Selbstorganisation angesiedelt werden kann. Aber was ist denn nun diese Selbstorganisation?
Die Definition bei Wikipedia finde ich interessant - aber für den Hausgebrauch viel zu weitschweifig und abstrakt. Für mich ist Selbstorganisation viel einfacher immer dann vorhanden, wenn eine Gruppe eine Entscheidung über den einzuschlagenden Weg zu einem Ergebnis selbst treffen darf.
  • Soll mit Java oder .NET entwickelt werden? Wenn eine Entwicklergruppe darüber selbst entscheiden darf, dann ist sie in Bezug auf die Entwicklungsplattform selbstorganisiert.
  • Soll agil vorgegangen werden? Wenn eine Entwicklergruppe darüber selbst entscheiden darf, dann ist sie in Bezug auf das Vorgehensmodell selbstorganisiert.
  • Soll Peter der ScrumMaster sein und Klaus die CI einrichten? Wenn eine Entwicklergruppe darüber selbst entscheiden darf, dann ist sie in Bezug auf die Rollenbesetzung selbstorganisiert?
  • Soll das Daily Standup von 10 Minuten auf 15 Minuten ausgedehnt werden? Wenn eine Entwicklergruppe darüber selbst entscheiden darf, dann ist sie in Bezug auf das Lernen im Rahmen ihres Vorgehensmodells selbstorganisiert.
  • Soll jeden Dienstag von 15-19h eine gemeinschaftliche "Lernzeit" in der CCD School stattfinden, um die Weiterentwicklung in Bezug auf Clean Code und andere Aspekte nachhaltig zu betreiben? Wenn eine Entwicklergruppe darüber selbst entscheiden darf, dann ist sie in Bezug auf ihre Zeiteinteilung und das Budget selbstorganisiert.
Sie sehen: Selbstorganisation ist binär. Sie ist da oder nicht. In Bezug auf einen Aspekt der Arbeit. Insofern ist Selbstorganisation auch immer irgendwie vorhanden. Einfach nur deshalb, weil sie Gruppenführer nicht um jeden Mist kümmern können und wollen. Immer wird der geführten Gruppe irgendetwas zur eigenen Entscheidung überlassen.
Gerät die Führung jedoch unter Druck, reagiert sie oft mit Einschränkung der Selbstorganisation. Dann werden Entscheidungsfreiheiten beschnitten. Es wird enger geführt. Micro-Management ist das Gegenteil von Selbstorganisation.
Von "der Selbstorganisation" wird allerdings erst gesprochen, wenn die de facto Selbstorganisation einen gewissen Schwellenwert überschritten hat. Solange eine Gruppe nur über Triviales selbst entscheiden kann, wird sie gewöhnlich und zurecht nicht als selbstorganisiert bezeichnet. Dann ist sie kein Team.
Ich denke, von erwähnenswerter (und dadurch auch kontroverser) Selbstorganisation kann erst gesprochen werden, wenn eine Gruppe sich selbst führt und nicht nur koordiniert. Das bedeutet, sie hat die Hoheit über Grundsatzentscheidungen jenseits der streng fachlichen. Dazu gehören für mich:
  • Arbeitsinhalt
  • Arbeitsort
  • Arbeitszeit
  • Arbeitsmittel
  • Rollenverteilung
Nein, durch die Freiheit zur Entscheidung in all diesen Belangen, entsteht keine Anarchie. Das hieße, Menschen als grob naiv und fahrlässig und desinteressiert anzusehen.
Außerdem bedeutet Entscheidungsfreiheit ja nicht Unbegrenztheit. Selbst ein Kurierfahrer fühlt sich auf der Straße ja frei, obwohl er erstens einen Auftrag hat und zweitens die StVO einhalten muss und drittens anderen Verkehrsteilnehmern mutwillig keinen Schaden zufügen will.
Selbstorganisation ist möglich in Grenzen. Nein, ich würde sogar sagen, sie braucht Grenzen. Die setzen nämlich Kreativität frei. Das ist wie beim Künstler, der seine Meisterschaft in den Grenzen von Motiv und Mittelwahl beweist.
Selbstverständliche Grenzen sind das gemeinschaftliche Ziel und die Professionalität der Teammitglieder [3].
Aber solange ein Unternehmen noch an Budgets glaubt, darf es einem Team auch ein Budget vorgeben. Dessen Einhaltung ist dann ein Ziel wie die Auslieferung von Software, die bestimmte Anforderungen erfüllt.
Genauso muss sich ein Team verantworten. Es arbeitet nicht im luftleeren Raum.
Doch die Grenzen sollten locker sein. Und die, die sie vorgeben, sollten sich ansonsten im Hintergrund halten. Sie sollten sich für Ergebnisse interessieren und nicht für den Weg, den das Team in Selbstorganisation wählt.

Fazit

Ob Sie in einem Team arbeiten, können Sie nun selbst prüfen. Hat ihre Entwicklergruppe Entscheidungsfreiheit in den angeführten Belangen? Dann arbeiten Sie leider noch nicht wirklich in einem Team. Da helfen auch aller guter Wille und Grillabende nichts.
Und wie steht es mit der Agilität und Selbstorganisation? Ich hoffe, Sie stimmen mit mir überein, dass Agilität "die Selbstorganisation" nicht voraussetzt. Agil können auch Gruppen arbeiten. Dafür braucht es nicht zwingend Teams [2]. Aber mit Teams geht Agilität wie vieles andere auch in der Softwareentwicklung natürlich besser.
Agilität mag ohne Selbstorganisation nicht wünschenswert sein, aber sie ist möglich.

Endnoten

[1] Wenn ich hier "Selbstorganisation" so pauschal gebrauche, dann adressiere ich damit auch eine ebenso pauschale (wie diffuse) Vorstellung davon. Umfassende Selbstorganisation halte ich für nicht nötig für die Agilität.
Andererseits lässt sich Selbstorganisation ja aber nicht vermeiden, wie Sie bei der weiteren Lektüre feststellen werden. Insofern ist Selbstorganisation selbstverständlich immer Teil von Agilität oder gar notwendig. Das halte ich jedoch für trivial.
[2] Ich denke, das beweist auch die Praxis, in der sich viele Projekte agil nennen, aber nur von Gruppen durchgeführt werden. Selbstorganisation, ich meine echte Selbstorganisation, ist einfach nicht weit verbreitet. Wäre doch schade, wenn sich deshalb die Agilität nicht ausbreiten könnte.
[3] Deshalb ist es so wichtig, beim Übergang zu mehr Selbstorganisation an der Professionalität zu arbeiten. Die ist nämlich durch die lange Gängelung unter einer Gruppenführung atrophiert. Nicht jeder fühlt sich deshalb auch gleich wohl, wenn er mehr Entscheidungsrecht und -pflicht bekommt.

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