Die grundlegende Praxis – im Tibetischen auch Ngöndro (tib., sngon ‚gro) genannt – ist nicht nur eine Vorbereitung, sondern enthält den gesamten Pfad zur Befreiung. Im folgenden Beitrag beschreibe ich die einführenden Gedanken und Überlegungen, die erforderlich sind, um überhaupt den Pfad zu betreten, gefolgt von der Praxis der Verbeugungen.
Grundgedanken
„Die Ausdrucksform (Körper) von höchster Weisheit, liebender Güte und Macht aller grenzenlosen Buddhas; der gnädig Gütige, der die hundert Buddha-Familien umfasst, Herr des Chakra, der glorreiche Lehrer, Lotus-Buddhas Füße, verehrend als unser Kronjuwel, bitte gewährt uns Euren Segen. Diese tiefgründig offenbarten grundlegenden Übungen, die hier zusammengestellt sind, sind der edle Pfad, der rasch und einfach zum Zustand der Vereinigung der vier Kayas führt. Ein Triumphwagen, vollkommen klar, einfach zu beschreiten, liegt hier vor. All ihr Glücklichen, tretet nun mit Freude ein!“ Und weiter: „Wenn jene, die erwacht durch vergangene tugendhafte Handlungen in der glücklichen Lage sind, diesem tiefgründigen Pfad zu folgen und die Verwirklichung des Grades der Einheit der vier Kayas in dieser Lebensspanne wünschen, mögen diesen einen Pfad eifrig und mit Ausdauer vom Anfang an praktizieren.“
Eine erste Reinigungspraxis
„Zuerst: Man setzt sich bequem hin und hält den Körper gerade. Atme die drei restlichen Gifte des Atems aus. Versetze den gewöhnlichen Geist in Ruhe, indem der Geist sich vollständig der natürlichen, fundamentalen, meditativen Konzentration (Samadhi) zuwendet. Durch die Erinnerung an den Wurzel-Lama, der die Verkörperung aller Buddhas ist, entsteht große Begeisterung.“
Diese Praxis wird auch als „Neunfacher Reinigungsatem“ bezeichnet und dient dazu, die unreinen Energien auszustoßen und den Geist zu klären. Wenn die Winde sich im Zentralkanal versammeln, dann entsteht im Geist eine große Klarheit, die für die meditative Versenkung förderlich ist.
Vier Gedanken
Dann folgt die Praxis der „Vier Gedanken, die den Geist wenden“. „Der zweite Abschnitt hat zwei Teile: Die allgemeine Praxis der „vier Wege, die den Geist wandeln“, welche den grundlegenden Geist reinigen und der außergewöhnliche, tiefgründige Pfad der fünf Stufen, der das Einpflanzen des Samens ist. Zuerst: Es ist äußerst schwierig die menschliche Geburt mit allen Freiheiten und Ausstattungen zu erlangen, Nachdem man die menschliche Geburt erlangt hat, ist alles vergänglich, weil man unter die Macht des Todes kommt. Obwohl man stirbt, ist damit nichts zu Ende. Einzig durch die Macht des Karmas ist man an den Daseinskreislauf gebunden. Wo immer man im Daseinskreislauf geboren wird, ist man nicht jenseits von Leiden. Denkt, jetzt muss man tun, was immer notwendig ist, um vom Daseinskreislauf, diesem großen Ozean des Leidens, befreit zu werden. Aus diesem Grund muss man von nun an den vollständig reinen, heiligen Pfad (Dharma) ausüben. „So möge ich fähig sein, zu praktizieren, kostbarer Lehrer, Ihr seid es, der weiß.“ Daher entwickelt man Gedanken des Vertrauens und der Befreiung (Entsagung).“
Sicht und Verständnis bei Niederwerfungen
Um die Zuflucht, die ja die Grundlage des Pfades ist, zu nehmen, visualisiert man die Objekte der Zuflucht. Begleitet wird diese Visualisation von körperlichen Handlungen und verschiedenen Gebeten. Somit vereinen sich in dieser Praxis bereits die drei Handlungsebenen von Körper, Rede und Geist. Diese drei Handlungsebenen werden durch die Praxis gereinigt und mit ihnen wird Verdienst – konstruktives Potential – angesammelt.
Man macht die Niederwerfungen vor einem Objekt der Zuflucht. In der Regel sind das Repräsentanten der Drei Juwelen (Buddha, Dharma, Sangha) in Form von Statue (oder Thangka/Bild) für den Buddha-Körper, einen Schriftenband für die Buddha-Rede und einer Stupa für die Buddha-Weisheit. Zusätzlich stellt man die sieben Opfergaben auf. Bereits an dieser Stelle entwickelt man eine bestimmte Sicht der Dinge, indem man sich an die Zufluchtsverpflichtungen und die sechs Paramitas erinnert.
Wenn man dann die Verbeugungen auch tatsächlich ausführt, dann stellt man sich folgendes dabei vor. Und ich beschreibe es anhand eines Bildes.
Vor einem wächst ein aus einem schmutzigen See ein gewaltig großer Stamm eines Lotus. In seiner Mitte erscheint der Kostbare Guru Nangsi Zilnön (Guru Rinpoche, der die Erscheinungswelt durch seine Pracht unterwirft). Hinter ihm sind links und rechts Schriftenbände, die die Lehren (den Dharma) repräsentieren.
Über seinem Scheitel sind die Lehrer der Linie (in dreifacher Münzanordnung) versammelt. Ganz oben ist Samantabhadra Yab-Yum als Dharmakaya, darunter Vajrasattva als Sambhogakaya und schließlich die weiteren Lehrer beginnend mit Garab Dorje, dem ersten Dzogchen-Lehrer, Manjushrimitra, Padmasambhava, Sri Singha, Yeshe Tsogyal, Gyurme Ngedön Wangpo, Dudjom Lingpa und Dudjom Rinpoche. Diese alle stellen die Zufluchtsobjekte des Vajrayana dar.
Links von ihm sind Buddha Shakyamuni und die 1.000 Buddhas des glücklichen Zeitalters. Sie stellen die Hinayana-Sangha dar. Und rechts von ihm ist die Mahayana-Sangha in Form der acht großen Bodhisattvas und 16 großen Sthaviras.
Vor dem kostbaren Guru Nangsi Zilnön sind die Schar der Mediationsgottheiten, dann die friedvollen und zornvollen Gottheiten, die eidgebundenen und befehlshörigen Dharma-Schützer.
Außerhalb dieser dichten Ansammlung befinden sich unzählige Opfergöttinnen, die Gaben darbringen und Lobpreisungen singen.
Schließlich ganz unten sind Menschen, die mit einem gemeinsam Zuflucht nehmen. Vor sich stellt man dabei noch die eigenen Feinde auf, die auch mit einem Zuflucht nehmen und noch vor einem Befreiung erlangen sollen. Rechts hinter einem sind Vater und die Väter, links sind Mutter und die gesamte Mütterlinie.
Und dann stellt man sich vor, dass man sich selbst vertausendfacht und mit dieser Zahl an Körper Zuflucht zu den Drei Juwelen und Drei Wurzeln nimmt. Und während man sich dann aufrichtet, stellt man sich vor, dass man mit den 1.000 Körpern alle Wesen heraufzieht und zur Befreiung führt.
Dies visualisiert man ganz klar und deutlich und spricht folgende Verse:
„NAMO – Ich selbst und die zahllosen Eltern, alle fühlenden Wesen gleich dem Raum, nehmen, bis die Essenzen der Erleuchtung erlangt ist, Zuflucht zum Lama und zu den Drei Juwelen. Ohne nur einen Augenblick getrennt zu sein, haltet uns mit Eurer liebenden Güte.“
Die rezitiert man so oft wie möglich. Auf diese Weise tritt man in den Pfad zur Befreiung ein. Anschließend entwickelt man die überragende Geisteshaltung zur Befreiung, die den Eintritt in das Mahayana – den Großen Pfad – darstellt.
„Alle Wesen, die den Raum erfüllen, sind meine Eltern. Obwohl sie Glück wünschen, erlangen sie nur Leiden. Ohne Befreiung kreisen sie erbärmlich im Dasein. Daher muss ich alles notwendige unternehmen, um sie zu befreien. Daher muss ich ohne zu schwanken starke Gewissenhaftigkeit entwickeln, damit diese tiefgründige yogische Praxis gelingt.“
Dazu praktiziert man das Aufnehmen und Aussenden, das Austauschen von einem selbst mit anderen. Damit vollendet man den strebenden und handelnden Erleuchtungsgeist. Am Ende der Sitzung nimmt man den Nektar des Segens in Form von grenzenlosen, leuchtend weißen Lichtstrahlen auf. Diese reinigen die Hindernisse und Blockaden der drei Tore und die Objekte der Zuflucht lösen sich in einem auf, wobei die zentrale Figur des Feldes der Ansammlung – in diesem Fall Guru Padmasambhava in Gestalt des Nangsi Zilnön – zur grenzenlosen Weite uranfänglicher Weisheitserkenntnis wird, jenseits von Vorstellungen. Man verweilt in einem Zustand meditativer Versenkung.
Die weiteren Teile der grundlegenden Übungen beschreibe ich ein nächstes Mal.