Seismologische Sprachflüchtigkeit

 

Vor einigen Stunden habe ich mich noch selbst zitiert, habe ich eine Passage aus einem meiner Essays feilgeboten, in dem es um die Laxheit der Ausdrucksweise geht. Dieser flüchtige und nachlässige Umgang mit Sprache und Sätzen findet sich täglich. Erst kürzlich wieder, als ich im aufhorchte, weil der Sprecher im Radio mitteilte, dass Jahrhunderte nach Galilei in Italien erneut ein etwas sonderbarer Fall die Justiz beschäftigte - und erneut gehe es dabei um Wissenschaft.
Inquisitorisch quasi hätte die italienische Justiz nämlich nun sechs Seismologen zu mehreren Jahren Haft verurteilt, weil sie das Erdbeben in L'Aquila, das 2009 rund 300 Menschen das Leben kostete, nicht vorausgesagt und die Bevölkerung nicht gewarnt hätten. Fürwahr kurios, dachte ich mir. Wenn ich auch nicht umgehend gleich an Galilei gedacht hätte, wie der Moderator, so hört sich das doch sehr mittelalterlich, sehr despotisch an.

Der Sprecher erteilte dann einem Korrespondenten das Wort, quetschte ihn gehörig aus. Der erklärte, dass niemand, kein Richter, kein Staatsanwalt, je behauptet hätte, dass die sechs Wissenschaftler eine detaillierte Prognose hätten in die Welt setzen müssen; von Voraussage war nie die Rede. Es ging der Justiz um etwas anderes. Die Seismologen seien nämlich schon nach einigen Vorbeben erschienen und hätten dort getagt und ausgewertet, hatten aber als Anweisung erhalten, die verängstige Bevölkerung so oder so zu beruhigen. Die Runde der Wissenschaftler habe auf Anordnung (von wem auch immer) letztlich bloß dafür getagt, um Zweckoptimismus und somit allgemeine Ordnung walten zu lassen; wissenschaftliche Ergebnisoffenheit stand niemals auf ihrer Tagesordnung.
Tatsächlich konnte dem Gericht stichhaltig nachgewiesen werden, dass von Anfang an nur Beschwichtigung als Parole ausgegeben wurde, egal was die wissenschaftlichen Auswertungen offenbaren. Dass diese Leute ihre Fachlichkeit dazu hergaben, um naive Fröhlichkeit und faktenferne Zuversicht auszuschenken, soll sie nun ins Gefängnis führen. So weit jedenfalls der Korrespondent - ob es so stimmt, sei mal dahingestellt.
Ich lasse mir ja noch gefallen, dass man über das Strafmaß diskutieren kann. Und über die etwaige Verlogenheit, dass auf Anordnung gehandelt wurde und die Anordner offenbar nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Ich weiß nicht, was nun stimmt. Glaube mich aber erinnern zu können, irgendwo über die Bissigkeit der italienischen Justiz gelesen zu haben. War es bei Dickie? Die Untersuchungen im Namen der so genannten mani pulite (sauberen Hände, was bedeuten soll: weiße Weste) bewiesen die Unabhängigkeit und den Eifer italienischer Gerichte; der zu Tode gebombte Richter Falcone steht hierfür symbolisch. Ich erinnere mich zudem bei einem deutschen Journalisten gelesen zu haben, dass diese italienische Justiz mit der deutschen unvergleichbar sei. Berlusconi soll vor Gericht kommen; Andreotti stand vor Jahren vor einem. Und auch, wenn die Urteile dann nicht hart und nicht völlig gerecht sein mögen - kann man sich in Deutschland einen Prozess gegen Kohl und Schäuble auch nur vorstellen?
Was ich damit sagen will: ich habe kein Insiderwissen zu diesem Fall mit den Seismologen. Dass sich die italienische Justiz aber aus dem Mittelalter rekrutiert, billige Affekte bedient, ist schwer vorstellbar nach dem, was ich in so vielen Büchern und Artikeln gelesen habe. Das ist freilich kein Beweis, nur ein begründeter Zweifel - und letztlich geht es mir darum auch überhaupt nicht, denn es ging um Sprache und Sätze, die nachlässig benutzt werden.
Der Radiosprecher ließ sich jedenfalls nicht vom Korrespondenten beeindrucken. Nachdem der eine andere Sichtweise auf den Fall ermöglichte, leitete der Sprecher das Feature mit einem kurzen Überblick aus und wiederholte erneut, dass sechs Seismologen ins Gefängnis sollen, weil sie das Erdbeben nicht angekündigt hätten. Erkenntnisgewinn gleich Null. Interessant ist zudem, dass der Korrespondent dem Sprecher und seiner Interpretation nicht widersprach, obgleich beide Sichtweisen sich doch nicht glichen, nicht mal ähnlich waren. Denn einmal geht es um eine besondere Form der Korruption und einmal darum, die Richter für von der kochenden Volksseele korrumpiert zu halten. Beides schien sich nicht auszuschließen, nicht mal zu ergänzen. Es stand im Raum, unvereinbar und doch nicht ersichtlich.
Das ist genau so ein Fall von Laxheit - man muss gar nicht von gezielter und beabsichtigter Nachlässigkeit sprechen. Es ist ein nicht adäquater, wirklichkeitsabbildender Umgang mit Worten und Sätzen, ein Meinen und Hindeuten, statt ein Erklären und Beschreiben. Vermutlich gibt es Radiohörer, für die beide Varianten, die reale Urteilsbegründung wie die eigenwillige Interpretation des Radiosprechers, exakt dasselbe zum Ausdruck bringen. Lax verwendete Sprache entstellt die Wirklichkeit. Sie macht, dass aus einem nachvollziehbaren Fall von wissenschaftlicher Korruption und fachlicher Falschaussage und Zweckentfremdung, ein scheinbar mittelalterlicher Strafprozess entsteht. So verwendete Sprache ist kein Instrument der Realitätserfassung mehr, sondern eine Interpretationssyntax, kein Kommunikationsmittel mehr, sondern eine klangvolle Narration.
Der lässige Sprachgebrauch rührt sich eine Welt und die Ereignisse auf ihr an, die es nur als Märchen gibt. Die Bequemlichkeit, die Worte nicht eng an die Wirklichkeit zu binden, wird zum Selbstläufer. Wird zur Wahrheit, die sich so nie wahrhaft ereignet hat. Von Ohr zu Ohr geht so die Nachricht, dass man in Italien nun übermenschliche Anstrengungen von Wissenschaftlern fordert. Der vermutliche Vorwurf, der sich erhärtete, wonach diese Herrschaften korrupt und käuflich waren, jedenfalls aber empfänglich dafür, ihr Fach zugunsten von ihnen abverlangten Besänftigungen zu verkaufen, verschwindet und ist die Lüge, die einst wahr war. Die laxe Formulierung macht hier aus der Wissenschaft Justizopfer - sie verdeckt dabei, dass es die Wissenschaft war, die Opfer von seismologischen Opportunisten wurde; sie vertuscht, dass Seismologie in diesem Falle nicht nur die Lehre von den Erderschütterungen ist, sondern auch fachliche Bedenken und Vorbehalte erschütterte.


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