Auf neoliberalen Bildungswegen

 

oder: wie Hessen Schule macht. Ein persönlicher Einblick.
Ich gehöre zu jenem privilegierten Teil der Elternschaft, die sich derzeit wenig Sorgen um den schulischen Werdegang, die schulischen Leistungen des eigenen Nachwuchs machen müsste. Doch tue ich dies. Nicht, weil ich einen Leistungsabschwung fürchtete - der kann natürlich kommen, die Pubertät lauert schon. Auch nicht, weil ich zu jener Elternschaft gehöre, die bei dem Gedanken an schlechtere Zensuren erschaudert im Hinblick auf die Zukunftsaussichten und Arbeitsmarktperspektiven - denn a) sind gute Zensuren keine Garantie für ein zukünftiges Eiapopaia, b) sind hingegen schlechte nicht gleich absolute Perspektivlosigkeit und c) ist der Druck, den das Ausmalen eines solch schaurigen Szenarios bewirkt, nicht förderlich für die kindliche Motivation und die elterlichen Nerven. Dennoch sorge ich mich, denn mein Kind besucht eine hessische Realschule, die stark an neoliberalen Leitwerten arbeitet.
Das Funktionieren

Der Rektor sprach beim Elternabend davon, dass die Kinder funktionieren müssten. Er tat das im Kielwasser von rhetorischen Ausbünden wie jenem, dass man als Elternteil und Schüler sozusagen Kundschaft sei und er als Rektor Anbieter einer Leistung. Aber funktionieren müssten die Kinder in jedem Falle. Nach den Regeln seiner Schule. Funktionieren sie nicht, tanzen sie aus der Reihe und das letztlich vielleicht sogar dauerhaft, so würde hart durchgegriffen, um den reibungslosen Ablauf zu gewährleisten. Er erzählte etwas von einem Schüler, der keine Schule in Hessen mehr besuchen dürfe, weil der einem Mitschüler via sozialem Netzwerk Gewalt angedroht habe. Um das Funktionieren von Unterricht, Lehrkraft und Schüler zu gewährleisten, sind solche Maßnahmen nicht abzulehnen. Ich weiß nicht, was da genau passierte, mit diesem Schüler, dem man die Schulpflicht gekappt hatte, aber was hatte das beim Elternabend als Vorwort zu suchen? Drohung, Einschüchterung schon zu Beginn? Natürlich alles in flapsiger Form vorgetragen, alles in scheißfreundlicher Weise, zwar nicht pädagogisch, aber doch nicht schroff und boshaft, sondern um Verständnis heischend. Man kennt es ja, das lächelnde Konterfei des Neoliberalismus.
Tage später, Telefonat mit dem Klassenlehrer. Die Klasse sei kompliziert, viele Unruhequellen, viel Geschwätze, einige Kasper. Er brauche Kinder die funktionieren. Nur so könne er arbeiten. Wirklich sein Orginalton: Kinder die funktionieren ...
Die Funktion des Kindes, die mit allen Mitteln hergestellt werden soll und falls das nicht gelingt, die Dysfunktion des Kindes auszumerzen, indem man das Kind suspendiert, aussperrt, es auf eine andere Schule überführt, ist die eine Säule neoliberalen Gedankenguts an Schulen. Die Funktionierung des Kindes zu einem reibungslosen Rädchen im Unterricht, läuft im Rahmen eines Maßnahmenkataloges, der sich der Effektivierung des schulischen Alltages verschrieben hat. Wie Unterrichtsstoff effektiv eingetrichtert werden soll, so soll sich auch der Schüler wirksam verhalten. Diese Forderung ist unpädagogisch, weil sie das Wesen des Kindes nicht erkennt, nicht wahrnimmt, sie fordert am kindlichen Wesen vorbei. Natürlich sind Gewaltbereitschaften zu unterbinden, aber nicht jede "Dysfunktion" ist ein vorkrimineller Akt. Schwätzen, Hineinreden, Quatschmachen und Klassenclownerie gehören ins kindliche Repertoire, sie können nicht aus dem Schulalltag herausreguliert, sie müssen hingegen ins Lernen eingebunden und als teils unabänderbare Tatsache und teils als kindlicher Entwicklungsprozess verstanden werden. Das funktionierende Kind ist ein theoretisches Faible des Neoliberalismus, wie er alles gerne funktionierend und reibungslos machen würde, was vermenschelt und fürderhin störend ist.
Kurzer persönlicher Einwurf
Mein Kind funktioniert. Mehr oder weniger. Ich habe mittlerweile auch schon vernommen, dass es geschwätzig ist, dass es sich ablenken läßt, die Leistungen sind aber durchweg gut und sehr gut - die Lehrerkollegen mahnten diese Diskrepanz zwischen guter Leistung und lapidarem Lerneifer stets an, meinte der Klassenleiter in einem Gespräch. Lehrer mahnten zu allen Zeiten "schwieriges Verhalten" ihrer Schüler an. Aber mit dieser Leichenbittermiene, mit dieser So-können-wir-nicht-arbeiten-Manier, mit diesem Hang zum Dramatisieren solcher schulischer Nickligkeit, kannte man das bislang nicht. Man erzog Schüler einst sehr hart, aber die moralische Verurteilung der mangelnden Funktionsfähigkeit, die dürfte heute härter vollzogen werden als dazumal.
Wundert es da, dass ich mich sorge? Was, wenn mein Kind noch weniger funktioniert, wie es derzeit funktioniert? Was habe ich sodann zu erwarten? Mir graut jeden Tag, was kommen könnte. Etwa wieder ein Anruf, tief besorgte Stimme dran?
Ich muss mir ja nur mal anschauen, wie mit dem Kind verfahren wurde, dass nachhaltig zu laut, zu derb, zu unfunktionell war. Plötzlich ward es für Tage nicht mehr gesehen. Abgesäbelt, aussortiert. Ein schwieriger Fall, ich gebe das zu. Schwierige Familienverhältnisse - aber für Mitleid, für Einfühlen ist keine Zeit an der effektiven Schule. Nur nicht verweichlicht sein - Linie durchziehen! Schnelles Kapitulieren als Lösung des Problems. Das Kind hat man schon aufgegeben. Das Schuljahr ist kaum zwei Monate alt und es ist schon aufgegeben. Das nenne ich mal effektiv! Und sehr pädagogisch! Wer nicht funktioniert, fliegt ganz schnell.
Als Vater bin ich cool genug, nicht zu verzagen. Aber was tun andere Eltern, um ihre Kinder funktionierend zu halten? Der Präzedenzfall in der Klasse zeigt doch, wie man ticken muss, wenn man weiterticken will. Und wenn die Pubertät dem allen ein Schnippchen schlägt, die Hormone durchdrehen, das Kind nicht mehr so richtig funktioniert. Was dann? Streit mit Lehrern? Anlegen mit der Schule? Im Wahn, möglichst effektiv Schule zu machen, kennt man nur kurzen Prozess. Der kurze Prozess ist etwas, was sich gut getrimmte Schulen aufs Revers stecken.
Die Säulen
Der Neoliberalismus baut im wesentlichen auf drei Säulen: Deregulierung, Privatisierung und Freihandel. Neoliberal geschliffene Bildungseinrichtungen gründen auf privatisierte Verhältnisse, auf Effektivierungsmaßnahmen und auf Selektionskriterien.
Schulsysteme, die sich an dieser Denkschule orientieren, sind stets bei knapper Kasse, suchen immer und überall Finanziers, die mal Spenden, mal aber Partnerschaft mit einem Privatunternehmen sein können und die somit auch in den Lehrstoff hineinwirken; bleiben die Mittel aus, so fehlt es an Material, an Personal, leiden Kinder und Eltern darunter und wird das Recht auf Bildung zu einer bloßen Pflicht, die Kinder in Schulräumlichkeiten zu bringen. Die Schulpflicht wird ausgehöhlt, sie wird zur Schulräumlichkeitsanwesenheitspflicht unter Obliegenheit einer Aufsicht, die kein Lehrer sein muss - jedenfalls hier in Hessen. Um an Gelder zu gelangen gibt das hessische Schulgesetz die Möglichkeit vor, Ganztagsangebote zu schaffen, die subventioniert werden. Zwanghaft stellen Schulen darauf um, auch wenn die Infrastruktur nicht gegeben, wenn die kindliche Versorgung nur schlecht gewährleistet ist. Zur Erlangung von Zuschüssen segnen Schulelternbeiräte diese Vorhaben ab; die Voraussetzungen spielen zumeist keine Rolle mehr.
Nochmal persönlicher Einwurf, ich fasse mich kurz: Bei einer solchen Sitzungen war ich zugegen. Ich stimmte nicht dafür - auf verlorenem Posten und unter angewiderten Blicken anderer Klassenelternbeiräte, die meine Sichtweise nicht mal hören wollten. Der Rektor vermittelte sein Vorhaben unter der Rubrik "Sachzwang" - dass da Elternbeiräte relativ unkritisch und unhinterfragt zustimmen, wundert nicht. Der Zwang kennt keine Fragen, keine Hintergrundinformationen, er kennt nur den aktionistischen Impetus.
Die Effektivierung betrifft mehrere Bereiche. Wesentlich ist die Wirksammachung des Kindes, wie oben erklärt. Der neoliberale Entwurf will effektive Strukturen, um kostengünstig und zeitsparend zu sein. Lehrpläne werden bereinigt, so genanntes unnützes Wissen aussortiert. Schulsport ist ein seltenes wöchentliches Gut, Fächer wie Geschichte und Geographie werden beschränkt, um den wichtigen Zensurfächern noch mehr Platz zu gewährleisten. Kinder sollen rechnen, lesen und schreiben können - eine allgemeine Bildung auf anderen Feldern scheint hingegen lästig und auch wenig notwendig, um später auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können. Was nützt einem Hauptschüler adäquates Wissen in Geschichte, wenn er bestenfalls KFZ-Mechaniker wird? Warum soll sich eine Realschülerin mit der Topograhie und der historischen Einordnung des Odenwaldes aufhalten, wenn sie später Bürokram verwalten soll?
Der Selektionswahn geschieht einerseits im Rahmen der Effektivmachung der Kinder, wenn man Störenfriede nicht mehr integriert, sich ihnen pädagogisch annähert, sondern auf schnelle und probate Mittel wie Aussperrung und Desintegration baut, und andererseits geschieht sie auf sozialer Ebene. Hauptschüler werden in Klassen mit Realschülern gesetzt, weil die Mittel fehlen, Hauptschulklassen und dazugehöriges Personal loszueisen. Noch gärt dieser Unterschied in der Klasse meines Kindes nicht, aber ich sehe die Konfrontation zwischen den Realschülern und den Hauptschülern heraufziehen - die Schulen gehen sehenden Auges in diese infantil-klassistische Katastrophe, die den weiteren Werdegang eines Kindes, das geschmäht wurde, das man sozial und intellektuell ausgrenzte, verlachte und verspottete, schwer beeinflussen wird. Ich warte nur darauf, dass man mir berichtet, die Realschüler hätten aufgemuckt, weil sie schwerere Klassenarbeiten schreiben müssen, als es die Hauptschüler tun -  ich warte auf die ersten Elternreaktionen, die dann lauten: Der Klassenschnitt ist mies, weil die Hauptschüler alle intellektuell nach unten ziehen. Hier wird ein unglaubliches Potenzial zur Spaltung der Gesellschaft geschaffen; die Schule fungiert hier als klassistische Selektionsrampe, an den nicht nur aussortiert, sondern auch die Keim der Ablehnung und der Schmähung gesät wird.
Unwohlsein im Kindeswohl
Diese Gesellschaft pflichtet denen bei, die meinen, die Beschneidung eines männlichen Säuglings würfe Traumatisierungen auf - selbst gestochenen Ohrlöcher schreibt man diese Wirkung zu. Das totale Kindeswohl wandelt auf extremen Spuren, degradiert Eltern zu Behütungsapparaturen infantiler Tabuzonen. Da wird überkandidelt behütet und übertrieben beschirmt. Jedes noch so theoretische und vorstellbare Leid soll vom Kind abgehalten werden. Ohrlöcher und medizinisch fachgerecht entfernte Vorhäute könnten ja aus dem erwachsenen Menschen ein psychisches Wrack machen, also jubelt die Gesellschaft im Taumel des Kindeswohles, wenn man das verbieten möchte. Das totale Kindeswohl hat uns auf der einen Seite im Griff, interessiert uns auf der anderen Seite nur marginal.
Das Kindeswohl ist ein Rechtsgut im deutschen Familienrecht - im effektiv gehaltenen Schulwesen ist es unbekannt. Hier schickt man Kinder auf Schulen, in denen sie verwaltet werden wie Lernaggregate, die man programmieren und systematisch organisieren sollte, um sie ergebnisreich heranzubilden. Dort werden sie selektiert und ausgemustert, auf Funktionsfähigkeit getrimmt und tyrannisch zu absoluter Anpassung komplimentiert, also dem Zuckerbrot und der Peitsche des Neoliberalismus ausgeliefert, in dem man mit Komplimenten tyrannisiert, mit netten und seriösen Worten unfreundliche und unseriöse Umstände vermittelt.
Sein Kind einer Lehranstalt auszuliefern, die nicht an Bildungsideale anknüpft, wie wir sie schon bei Humboldt finden, es in eine effektiv gestaltete Lernagentur zu schicken, das kann fürwahr Angst machen. Jedes Kind ist dann eine tickende Bombe, denn es könnte aus der Reihe tanzen, dann würde die Schule keifen, das Jugendamt alarmiert (auch davon ist hin und wieder schon geredet worden), eine Schulpsychologin eingeschaltet, nur weil das Kind nicht ganz genau so funktioniert, wie man es gerne hätte.


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