SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (193): Körpertherapeutische Selbsthilfe und eine gescheiterte Selbststeuerung

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (193): Körpertherapeutische Selbsthilfe und eine gescheiterte Selbststeuerung

Foto: vkd

Allerdings: Außer diesen ersten Bioenergetikern gab es keine Therapeuten in Deutschland, welche Reichs »charakteranalytische Vegetotherapie« oder »Orgontherapie« ausübten. Nur in München praktizierte damals noch ein greiser direkter Schüler von Reich, Dr. Hoppe. Aber wegen der großen Entfernung zu Berlin, wo ich inzwischen lebte, stellte das keine Option dar.
Dort kam ich mit Reich-Kennern in Kontakt. Professor Bernd Senf startete seine legendären Vorträge über Wilhelm Reich in der Mitte der 70er Jahre. Er zog jede Woche Hunderte von Zuhörern an. Nach einem dieser Vorträge kam ich mit ihm ins Gespräch.
Er erzählte mir von seiner Vision, eine Wilhelm-Zeitschrift im deutschsprachigen Raum ins Leben zu rufen. Das Konzept stand, einen Titel hatte er parat: »Emotion – Beiträge zum Werk von Wilhelm Reich«. Emotion sollte in Buchform mit 1–2 Ausgaben pro Jahr erscheinen.
Ich arbeitete damals als linksorientierter Journalist und besaß das Knowhow, wie man eine Zeitschrift oder ein Buch macht. Gemeinsam mit Bernd Senf und einigen anderen, die sich intensiv mit Reich beschäftigten oder beschäftigen wollten, riefen wir die Redaktion der Wilhelm-Reich-Zeitschrift »Emotion« ins Leben. Diese Gruppe sollte über einige Jahrzehnte den Diskurs über Reichs Werk im deutschsprachigen Raum bestimmen.
In dieser Gründungsphase trafen sich 20–30 Personen, mit durchaus unterschiedlichen Interessen. Neben der Arbeit an der Zeitschrift selbst wurde schnell klar, dass ein Grundproblem existierte: Es gab eine riesige Nachfrage nach der körpertherapeutischen Methode Reichs, aber kein entsprechendes Angebot.
Wir diskutierten eingehend, wie man das Problem lösen könnte, begierig, die originäre Vegetotherapie kennenzulernen. Über mehrere Ecken kamen wir in Kontakt mit Peter Jones in England. Peter war Patient und Schüler von Ola Raknes, dem wiederum ältesten, aber bereits verstorbenen Wegbegleiter und Schüler Reichs in Norwegen. Raknes hatte ein damals viel beachtetes Buch in deutscher Sprache veröffentlicht Wilhelm Reich und die Orgonomie. Kurzum, Peter Jones mussten wir unbedingt nach Berlin bringen.
Über Bernd Senfs Vorlesungsreihe und weitere Vernetzungen ließen sich in kürzester Zeit fast 100 Interessenten mobilisieren, die an einem oder mehreren mehrtägigen Reich-Workshops mit Peter Jones in Berlin teilnehmen wollten. Es fand in der »Öko-Fabrik« statt, einer ausgedehnten Fabriketage in Berlin-Schöneberg, dem Vorläufer des später bekannten Öko-Projekts »Ufa-Fabrik« in Berlin-Tempelhof.
Hundert Leute oder mehr warteten begierig, die originäre Reich-Methode endlich kennenzulernen. Peter Jones, ein sympathischer, zurückhaltender Brite mit leiser Stimme und vor Aufregung hochrotem Kopf, zeigte sich leicht überfordert.
Jahre später erfuhr ich, dass er zwar eine Einzeltherapie bei Ola Raknes absolviert hatte, aber keine Erfahrungen für die Leitung von Gruppen mitbrachte. Die hohe Teilnehmeranzahl dürfte damals einen Schock ausgelöst haben. Dennoch schlug Peter sich tapfer, um das Durcheinander in den Griff zu bekommen. Er erläuterte Prinzipien der Vegetotherapie, zeigte ein paar grundlegende Techniken, leitete Gruppen- und Partnerübungen an. All dies hinterließ allerdings keinen bleibenden Eindruck, denn ich besitze nur noch vage Erinnerungen an diese Workshops.
Als alleinerziehender Vater brachte Peter seine etwa 4-jährige Tochter mit. Unter dem Eindruck der Theorien Reichs und unserer eigenen idealisierenden Übertragungen glaubten wir in ihr einem originären »selbstgesteuerten« (Wie sein Freund und Schüler Alexander S. Neill plädierte Wilhelm Reich für ein »selbstgesteuertes« Aufwachsen der Kinder. Wenn diese ohne repressive Eingriffe von Familie und Gesellschaft sich in ihrer Natur entwickeln dürfen, würden sie zu einer gesunden, d. h. triebbejahenden und nicht-neurotischen Persönlichkeit heranwachsen) Kind zu begegnen. Dabei übersahen wir geflissentlich, dass die Kleine permanent Süßigkeiten in sich reinstopfte und vielmehr als »oral frustriert« eingeschätzt werden musste.
(Fortsetzung folgt)

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