Sehr geehrter Herr Tolstoi...

Sehr geehrter Herr Tolstoi,
mein Name ist Mila, ich bin 24 Jahre alt, unverheiratet, nicht adelig und lebe im 21. Jahrhundert. Das ist ein bisschen nach ihrer Zeit, ich weiß. Trotzdem möchte ich mich heute hoffnungsvoll an Sie wenden, denn ich habe ein Problem mit einem Ihrer Werke. Es gibt da diese Liste mit den 100 beliebtesten Büchern der Weltliteratur und diese Liste habe ich mir vorgenommen zu lesen. Ihr Buch steht auch drauf - sogar zwei ihrer Bücher- und das, obwohl die Liste fast 100 Jahre nach ihrem Tod erschien. Ganz eindeutig ist das eine sehr beeindruckende Leistung und ich möchte Ihnen herzlich dazu gratulieren!

Sehr geehrter Herr Tolstoi...

Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi im Jahr 1908 (Quelle)

Kommen wir nun aber zum Anlass dieses Briefes: Ihr Roman "Krieg und Frieden" - sie wissen schon, der mit den bescheidenen 1400 Seiten - bereitet mir seit einiger Zeit Kopfzerbrechen. Trotz seiner gefühlten 1,5 Kilo Gewicht ist mir der Roman schon durch einige Länder gefolgt. Unsere Reise begann in Deutschland, führte uns dann zum Surfurlaub nach Frankreich und nun lebt das Buch in meinem Bücherregal in Holland. Ich würde so gerne behaupten können, es sei hier glücklich. Leider ist das wahrscheinlich nicht der Fall, denn es muss sich mit gerade einmal 400 gelesenen Seiten in 8 Monaten beglücken, während es ständig seine Kollegen nach höchstens 2 Wochen ins Regal zurückkehren sieht - total ausgelesen. Sie fragen sich nun: Warum tue ich einem Buch so etwas an? Glauben sie mir, ich fühle mich furchtbar. Aber, das muss ich Ihnen einfach sagen, auch etwas betrogen! "Extraordinary vitality" hat mir der Klappentext versprochen. Und nun stehe ich hier und habe 400 Seiten lang nach der Vitality gesucht. Wo ist sie denn? 
Ich bin mir durchaus darüber bewusst, dass der Schreibstil vor 150 Jahren ein wenig anders war als heute, damit kann ich leben. Was mir aber Probleme bereitet, ist der Fluss der Geschichte. Mir wurde berichtet, sie seien in ihren Erzählungen etwas ausschweifend und daher schwer zu lesen. Eindeutig ist dies auch der Fall für den Kriegsteil der Geschichte; ich muss aber zugeben, dass ich diesen meist überblättere und wieder zum Frieden übergehe. Aber nachdem im Krieg jeder einzelne Pferdehuf in seiner ganzen Schönheit beschrieben wird, hatten Sie mit dem Frieden weniger Geduld. Sie haben doch da diese ganzen spannenden Szenen, ich freue mich zum Beispiel immer, wenn es um Prinzessin Márya Bolkónsky geht, die mag ich nämlich irgendwie. Und auch Pierre ist ein netter Junge, etwas naiv vielleicht, aber das Herz am rechten Fleck. Er hätte nicht unbedingt auf Hélene reinfallen müssen, aber nun, Herr Tolstoi, wir wissen ja alle wie Männer sind, nicht wahr? Vor allem die in ihrem Buch fallen erstaunlich oft der Oberflächlichkeit und Verwöhntheit ihrer Frauen zum Opfer. Aber ich verstehe schon, man bewegt sich in Adelskreisen. Was ich nicht nachvollziehen kann, ist dass sie jede auch nur ansatzweise spannende Szene - wir haben da allerdings wahrscheinlich verschiedene Ansichten über Spannung - im Keim ersticken und wieder zur Politik übergehen. Immer wenn es um das Leben der Figuren geht, wird ratz fatz nach ein paar Sätzen die Szenerie gewechselt und Schwupp - sind wir wieder bei irgendeinem General im Büro. Herr Tolstoi, das ist so frustrierend! Jedes mal wenn eine meiner Lieblingsfiguren auftaucht und nach einer Seite wieder für 20 Seiten Politik Platz machen muss, ärgere ich mich so, dass ich das Buch erstmal weglege. Wenn ich es dann wieder anfangen will, stehe ich gleich vor dem nächsten Problem: Wer war denn jetzt nochmal wer? Es ist schon schwer genug die Figuren auseinanderzuhalten, weil alle Männer Prinzen sind. Aber müssen die wirklich auch noch alle Nikolay heißen?
Wenn das nun noch 1000 Seiten so weitergeht, bin ich mir wirklich nicht sicher, ob ich die Zeit dafür aufbringen möchte. Aber ihr Buch gehört doch zu den bedeutendsten der Weltliteratur! Was soll ich nur tun? Ich möchte Sie abschließend mit einem Zitat Ihres Kollegen Franz Kafka vertraut machen:
"Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich." 
Herr Kafka würde mir  nun mit Sicherheit sagen, ich soll "Krieg und Frieden" einfach abbrechen. Einen "Faustschlag auf den Schädel" kann ich bis jetzt beim besten Willen keiner einzigen Seite Ihres Buches bescheinigen. Aber ich möchte auch nicht einfach aufgeben, nun hab ich doch schon 400 Seiten gelesen. Kommen Sie schon Herr Tolstoi, 100 Seiten gebe ich Ihnen noch. Überzeugen Sie mich! Es muss ja nicht gleich die Axt für das gefrorene Meer in mir sein. Ein Tick mehr Spannung reicht schon.
Vielen Dank für Ihre Zeit! Hochachtungsvoll, Ihre Mila
Ps: Wären sie mir furchtbar böse, wenn ich mir einfach den Film anschauen würde?


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