Segen oder Fluch

Es war abzusehen, dass uns das Thema irgendwann wieder einholen würde. Auf ewig konnten wir uns nicht der ethischen Debatte über die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik entziehen. Ein Urteil des Bundesgerichtshofes zwingt uns jetzt, diesem Thema mehr Beachtung zu schenken. Das höchste deutsche ordentliche Gericht entschied, dass es statthaft ist, befruchtete Eizellen vor dem Einpflanzen in den Mutterleib auf eventuelle Krankheiten und Behinderungen zu untersuchen und den Embryo nicht auszutragen, wenn eine Schwerstbehinderung auftreten könnte. Natürlich laufen Behindertenverbände und Kirchen massiv Sturm gegen das Urteil. Es sei ein erster Schritt auf dem Weg zum Designerkind, heißt es da, und: wenn man schon in diesem frühen Lebensstadium selektiere, warum dann nicht auch später, nach der Geburt, wenn das Kind nicht den Erwartungen der Eltern entspreche? Befürworter des Urteils und der Präimplantationsdiagnostik weisen darauf hin, dass man mit dieser Technik Krankheiten und Behinderungen so früh erkennen könne, dass es gar nicht erst zu einem Leben mit der Schwerstbehinderung kommen müsse. Das sei für alle Beteiligten von Vorteil. Die Positionen scheinen unversöhnlich.

Segen oder Fluch

Photo: euthman

Schon die juristische Diskussion ist kompliziert und befasst sich nicht zuletzt mit der Frage: Wann beginnt menschliches Leben? Das Bundesverfassungsgericht bestimmte 1975, dass das Leben mit der Befruchtung der Eizelle durch die Samenzelle beginne, und dass es von diesem Moment an grundgesetzlich geschützt sei. Die Frage ist also, ob eine diagnostische Behandlung eines Embryos gegen die Menschenwürde verstößt, und ob das Abtöten und Nichtaustragen einer befruchteten Eizelle, die möglicherweise genetische Schäden aufweist, gegen das Recht auf Leben verstößt oder als Mord angesehen werden muss.

Doch diese juristische Debatte ist eigentlich nur Ausdruck eines viel größeren gesellschaftlichen Problems, einer Ethikdebatte, die auf den ersten Blick nicht lösbar scheint. Wenn es doch heutzutage möglich ist, die Behinderung eines noch ungeborenen Kindes zu vermeiden, warum sollte man einem Kind dieses lebenslange Leiden nicht ersparen? Ganz abgesehen von der Tatsache, dass die Schwerstbehinderung eines Kindes auch das Leben der Eltern für immer verändert und unberechenbare seelische Folgen nach sich ziehen kann. Wem will man es verübeln, eine angebotene Möglichkeit zu nutzen, zum Wohle des dann nicht geborenen, möglicherweise behinderten Kindes, und auch – zugegebenermaßen – zum eigenen Wohl? In welcher Welt leben wir denn, wenn Eltern gezwungen werden können, Kinder auf die Welt zu bringen, die ihr Leben lang leiden müssen? Wären diese Kinder nicht später berechtigt, ihren Eltern Vorwürfe zu machen? Dies ist eine Argumentation, der man sich stellen muss. Es geht um die Frage, ob man eine mögliche Methode zur Leidensverhinderung nutzen sollte oder nicht. Niemand, der ernsthaft darüber nachdenkt, ein wahrscheinlich behindertes Kind nicht auf die Welt kommen zu lassen, begeht in meinen Augen per se ein Verbrechen. Den Respekt vor dem Gewissen jedes Einzelnen sollten alle aufbringen, auch in diesem Streit.

Der Grund, warum ich letztlich die Entscheidung des Bundesgerichtshofes und damit die Präimplantationsdiagnostik entschieden ablehne, liegt in der mangelnden Toleranz und der mangelnden Reife des Menschengeschlechts begründet. Unser ethisches Empfinden, so die Verfechter der Evolutionsethik, hinkt unserem technischen Verständnis um rund 60.000 Jahre hinterher. Das merkt man auch bei der Frage der Präimplantationsdiagnostik. Wenn Eltern behinderter Kinder schon heute in der Gesellschaft schief angesehen werden, weil sie ihr Kind bekommen haben, und weil es der von Finanz- und Wirtschaftskrisen gebeutelten Gemeinschaft Kosten verursacht, dann sind wir nicht reif für eine Methode, noch mehr Kinder zu verhindern, die unserer besonderen Aufmerksamkeit, Zuwendung und Fürsorge bedürfen. Außerdem ist mit dieser Entscheidung ganz klar das Schicksal der heute und in Zukunft lebenden Menschen mit Behinderung verbunden. Man wird das Phänomen Behinderung nie ganz ausrotten können. Es wird also immer behinderte Menschen geben. Wenn man aber die Präimplantationsdiagnostik zulässt, dann werden sie mehr und mehr zu lästigen Außenseitern der Gesellschaft. Sie sind dann Unfälle und Sonderlinge, kein natürlicher Bestandteil des normalen Lebens mehr. Dabei beginnen Menschen mit Behinderung gerade erst, sich diesen Platz in der Mitte der Gesellschaft mühsam zu erkämpfen. Wenn es möglich wäre, und die Präimplantationsdiagnostik suggeriert dies, behindertes Leben schon im Ansatz zu verhindern, würden sich die ästhetischen Vorstellungen in der Gesellschaft ganz natürlich verschärfen, und die Ausgrenzung würde überhand nehmen. Und das wäre dann eine gravierende Verletzung der Würde des Menschen, und zwar des bereits geborenen Menschen. Es ist der Schutz derer, die keinem wie auch immer gearteten Normbegriff entsprechen, der mich in den Ruf einstimmen lässt: Wehret den Anfängen.

Diesen Kommentar habe ich am 09.07.2010 auf ohrfunk.de veröffentlicht.


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