(Collage: Emma Isacson)
„Henry ist abgehauen. Scheisse. Ich brauche eine neue Kolumnenfigur.“ Das war eine der letzten Nachrichten von Thomas. Die SMS habe ich am 10. Februar erhalten. Redaktionsschluss war der 7. Februar. Sein Zusammenbruch war abzusehen. Einmal schrieb er: „Der Tiefbesiegte von immer Grösserem zu sein. Rilke.“ Das war kurz, bevor er verschwand. In der gleichen Nacht erreichten mich diese beunruhigenden Worte: „Ikarus’ Flug verriet seine Schönheit erst im Fallen.“ Nun hat mich die Redaktion gebeten, ein entschuldigendes Statement zu verfassen.
Mein Name ist Vanessa Varendorff. Warum Thomas in dieser Angelegenheit Vertrauen zu mir gefasst hat, weiss ich nicht. Vielleicht weil wir uns im Kino kennen gelernt haben. Vielleicht weil ich so weit weg bin. Berlin. Vielleicht weil er diese kindischen Gefühle für mich entwickelt hat. Vor ein paar Wochen schrieb er: „Ich experimentiere an einer diamantenen Sprache: scharf, licht, funkelnd.“ Und dann: „Unbegrenztes Budget. Von der Redaktion zugesichert.“ Naja, sehen Sie, als ich das las, kamen mir die ersten Zweifel.
Er arbeitete an einer Kolumne über L’enfer. Selbst habe ich den Film nicht gesehen. Erst wusste ich nur, was Thomas mir in einer E-Mail schrieb: „Romy nackt. Auf Eisenbahnschienen gefesselt. Immer schneller hebt und senkt sich ihr Brustkorb. Eine Dampflok rast heran.“ Ein anderes Mal: „Das Licht frisst ihr Gesicht. Der Schatten frisst ihr Gesicht. Über Monate hinweg haben sie Versuche im Filmlabor gemacht. Aus dieser Besessenheit entblättern sich nun Bilder einer Ästhetik, die in eine andere Welt gehört.“ Seine Sätze ergaben keinen Sinn. Ich fragte nach.
Hier seine (immer noch sehr verworrene) Antwort: „L’enfer – die Hölle! die Eifersucht! die Imagination! – ist ein Dokumentarfilm über ein ehrgeiziges Filmprojekt aus dem Jahr 1964. Georges-Henri Clouzot ist daran gescheitert. Grandios gescheitert. Die 185 Filmrollen (150 Stunden Material!) schlummerten ungesehen im Archiv des französischen Landesverbandes für Kinematographie. Serge Blomberg hat die legendären Bilder zum Leben erweckt.“
Da ich die Erregung in seinen Worten spürte, reagierte ich mit Interesse. Er antwortete: „Eine Geschichte über Eifersucht, die in Obsession und Bilderwahn ausartet. Mit Romy Endlich-weg-vom-Sissi-Image Schneider und Serge Reggiani in den Hauptrollen. Reggiani verliess während der Dreharbeiten verärgert das Filmset. ‚Ich lasse mich nicht länger von einem schizophrenen Geisteskranken schikanieren’, sagte er über den Regisseur. Clouzot am Ende. Herzinfarkt. Der Film blieb unvollendet.“
Ich suchte im Internet nach einer Zusammenfassung und fand diese Bemerkung von Serge Bromberg: „In unserer Geschichte gibt es eine Mischung aus Mysterium, Faszination und Tragödie. Ein Mann, Henri-Georges Clouzot, will sich von den grammatikalischen Regeln des Kinos und von den üblichen Strukturen der Kreativität befreien, indem er Grenzen auslotet, an die sich vor ihm kein Filmemacher oder Künstler je herangewagt hatte.“ Ziemlich dick aufgetragen, wenn Sie mich fragen. Ob der Film über den Film dieses triumphale und religiöse Versprechen tatsächlich einlösen kann?
Thomas jedenfalls schien sehr angetan von der Bereitschaft Clouzots, nicht das Machbare anzustreben, sondern sich mit Haut und Haar einem kompromisslosen Kunstwahn zu verschreiben. Heute Morgen erreichte mich diese Nachricht: „Der Rhythmus der Eisenbahn. Berlin, ich komme. Vanessa, spürst du meine vorauseilenden Finger. Ich schreibe. Ein Projekt, das die Kolumnenwelt revolutionieren wird.“
Nein, ich schmunzle nicht. Und ich runzle nicht die Stirn. Aber im Namen der Redaktion möchte ich mich dafür entschuldigen, dass heute keine Kolumne von Thomas Meier erscheint.
L’ENFER, F 1964, F 2010, Regie: Serge Bromberg, Ruxandra Medrea, Henri-Georges Clouzot, Schauspieler: Romy Schneider, Serge Reggiani