Schulausflug – Für alle Leonies

“Na, mein Schatz, wie war es heute?”, fragt Mama, als Leonie nach Hause kommt.

Leonie überlegt. Sie weiß ganz genau, was Mama meint.
Aber sie ist nicht gemobbt oder sonst wie drangsaliert worden, sie wurde nicht ausgelacht, ihr wurde nichts weggenommen oder abgepresst.
Sie hat sich nicht vor irgendwem blamiert.
Es gab mit niemandem Streit.
Kein Lehrer hat sie ungerecht behandelt oder schlecht benotet.
Ging ja auch schlecht, denn heute war Klassenfahrt angesagt gewesen.
In eine etwas größere Stadt weiter weg. Dort dann das übliche Programm: Ein paar Sehenswürdigkeiten auf dem Weg, ein Museum mit auszufüllendem Quizzettel, danach Freizeit. Zurück zum Bus, zurück nach Hause, lachen, lärmend. Was soll schon gewesen sein?
Leonie wurde weder gemobbt, noch drangsaliert. Und fühlte sich trotzdem den ganzen Tag schlecht.
Sie wurde weder angefeindet, noch gemieden. Dennoch ist sie traurig.

Der Morgen.
Leicht unentschlossen steht Leonie mit den anderen rum und wartet auf den Bus, mit dem sie die Klassenfahrt machen werden. Alle schnattern wild und aufgeregt durcheinander, nur Leonie bliebt stumm.
Sie quält einzig und allein ein Gedanke:
“Neben wen soll ich mich gleich setzen?”
Die üblichen Verdächtigen, all die “HDGGGGDL!”-BFFs (“Beste Freundin Für immer”) sitzen nebeneinander, das ist so klar wie nur was. Und all die anderen? Maren und Christina sitzen in drei Fächern nebeneinander und stecken auch jetzt die Köpfe zusammen. Was mit Anna, Hannah und Lisa ist, weiß Leonie nicht … Jungs sind natürlich tabu. Da kann man noch so gut befreundet sein, sich noch so gut mit Daniel und Tim verstehen, im Bus herrscht klare Geschlechtertrennung. Und überhaupt würden die das auch nicht wollen, oder?
Leonie hat viele Freundinnen, Leonie ist kein Einzelgänger oder so. Aber Leonie ist schüchtern und die eine, beste Freundin hat sie nicht.
Schon seit Tagen ist sie nervös, weiß nicht, wie sie mit der Situation umgehen soll. Gestern hat sie all ihren Mut zusammengenommen und hat Celina gefragt, ob sie neben ihr sitzen will.
Aber Celina hat bedauernd den Kopf geschüttelt: “Sorry, ich sitze schon neben Julia!”
Am meisten hängt Leonie mit Sophia und Michele rum, aber … tja, da ist sie eben auch außen vor irgendwie. Geduldet, ertragen, das dritte Rad! Nein, Halt, das ist gemein, das stimmt doch gar nicht! Nein, so ist es nicht: Sophie und Michi haben sie echt gern. Aber die Beiden sind eben beste Freundinnen, vom Kindergarten an, und da kommt Leonie nicht rein, kann da nie mithalten. Oder neben einer der Beiden sitzen.
Panik überfällt sie: Was, wenn sie allein sitzen muss? Wie peinlich wäre das denn, echt, lieber würde sie sterben, als allein zu sitzen, echt, als ob sie aussätzig wäre oder was?
Und was macht sie eigentlich falsch????
Der Bus kommt und Leonie wird einfach mit hinein gedrängt. Ohne groß zu überlegen, läßt sie sich auf einen Zweiersitz vor Michi und Sophia fallen.
“Ist hier noch frei?”, fragt Manuela, ausgerechnet.
“Klar”, sagt Leonie und zieht sich ihre Tasche auf den Schoß. Ausgerechnet Manuela mit ihren tausend Pickeln, die auch immer ein bisschen komisch riecht! Aber nett ist sie, das schon. Und irgendwie ist Leonie auch erleichtert, dass sie nun doch nicht allein sitzen muss. Wenn es doch wenigstens Lisa oder Kathi gewesen wäre …!

Bei den Sehenswürdigkeiten kommt Leonie gut weg, da tummelt sich alles auf einem Haufen, da fällt sie nicht auf und ihre Schweigsamkeit nicht und sie nicht und dass sie eh nicht wüsste, was sie die ganze Zeit Witziges und Geistreiches sagen sollte, da geht sie unter in der Masse und das ist gut so und was verdammt ist eigentlich mein Problem????

Im Museum dann, die Lehrerin verteilt Zettel. Aufgaben lösen, Fragen beantworten, wenigstens haben die Kinder was gelernt!
Lenie weiß gar nichts, steht stumm, steht still und schließt sich dann wie ein leiser Schatten Sophia und Michele an, trottet einfach hinterher.
Sophia dreht sich um, Haare fliegen, sieht Leonie.
Lächelt: “Mensch, da bist Du ja!”
Es durchströmt sie süß und warm: Sie wird gemocht!

Später dann ist alles anders. Freizeit steht an, es geht in die Stadt, Fußgängerzone, Shoppingmeile, was denn sonst?
Alle ziehen los, erste Grüppchen spalten sich ab. Lärmen, flachsen rum, sind jung.
Leonie geht wieder hinter Michele und Sophia her. Erst ging sie neben ihnen, aber dann wurde der Bürgersteig zu eng, Menschen kamen ihnen entgegen, einer musste ausweichen und wer sonst sollte ausweichen, wenn nicht Leonie?
Und danach hat sie sich irgendwie nicht getraut, wieder weiter nach Vorne zu gehen …
Tja und dann?
“Was ist passiert?”, könnte man fragen, wenn man so gar keine Ahnung hätte.
Dann würde Leonie mit den Schultern zucken und sagen: “Gar nichts eigentlich!”
Denn es ist nichts passiert, in keinem dem Universum bekannten Sinne. Es war nur schlicht und einfach so, dass Michele und Sophia irgendwann abgebogen sind und Leonie sich nicht getraut hat, mitzugehen.
“Warum nicht, das sind doch Deine Freundinnen?”, fragt sie sich selber.
Leonie weiß keine Antwort. Sie hat sich einfach nicht getraut. War wie gelähmt, und dann war der Moment auch schon vorbei und sie ist im Schwarm der anderen mitgegangen. Jetzt noch umzudrehen, hinterherzurennen … ach, sie will doch auch nicht störten …
Leonie geht mit den anderen weiter, unsichtbar, gesichtslos, den Kopf zu Boden. Schaut Sophia und Michele hinterher. Diesmal dreht sich keine von ihnen um.
Tränen schießen hoch.
Bloß nicht heulen, nicht vor den anderen!
Verstohlenes abwischen der Tränen, aber keine Sorge: Niemand hat was bemerkt.
“Weil mich niemand anschaut!”, denkt Leonie. Selbstmitleid pur. Destruktiv, das weiß sie. Ist aber eben so.
Den Rest des Tages schwimmt sie mit. Ist klein, ist still, antwortet einsilbig. Tut so, als würde sie mitlachen, auch wenn sie gar nichts verstanden hat. Weil sie nicht mittendrin steht, sondern am alleräußersten Rand.
Ob überhaupt einer merken würde, wenn sie jetzt einfach woanders hingeht? Ob sie jemand vermissen würde? Oder würden sie erst später, wenn die Lehrerin die Schüler am Bus zählt, merken, dass einer von ihnen fehlt?
Uud würden sie lange grübeln müssen, wer es ist?
Leonie schüttelt den Kopf, sie mag sich selber nicht, wen sie so jammerig ist, so selbstmitleidig, was ist nur los mit ihr? Niemand zwingt sie dazu, niemand würde sie aufhalten, wenn sie den Kopf hebt und lächelt und losgeht, auf die Anderen zu und so witzig und so geistreich ist, dass alle sie bewundern und dann wird sie auch eine beste Freundin finden, eine, die immer neben ihr sitzt, ohne, dass sie fragen muss, eine beste Freundin ganz für sich allein!

Aber es geht nicht.

Sozialkrüppel.

Den Rest des Tages und die Rückfahrt verbringt Leonie stumm. Nichtmal mit Michele und Sophia will sie reden, sie braucht deren Mitleid nicht!, auch nicht mit der komischen Melanie oder sonstwem. Ohrhörer rein, Musik an. Laut und heftig. Sie blickt aus dem Fenster, lehnt ihren Kopf daran. Wünscht sich woanders hin. In ein anderes Leben zum Beispiel.

“Na, mein Schatz, wie war es heute?”, fragt Mama, als Leonie nach Hause kommt.
Leonie zuckt mit den Schultern.
“Ja, war ganz OK!”


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