Schubkraft

Die Geschichte der Wachstumsschübe ist eine Geschichte voller Missverständnisse - könnte man meinen. Die einen Mütter schwören, dass ihre heranwachsende Brut JEDEN einzelenen dieser von Van de Rijt und Plooij beschriebenen Sprünge genau pünktlich durchgemacht hat. Die anderen Mütter lächeln nur müde und halten das alles für ausgemachten und erfundenen Unsinn. Doch was ist eigentlich dran an "Oje, ich wachse!" und seinen Wachstumsschüben, die die Zwerge (und vor allem ihre Mütter) alle paar Wochen wieder neu quälen und vor unbekannte Abenteuer stellen?
Ich habe ja bekanntlich zwei oje, wachsende Kinder. Ich weiß gar nicht mehr, was zuerst da war - das Buch oder die Maus? Jedenfalls wusste ich, was mir bevorstehen sollte und nachdem der erste Wachstumsschub, der um die 5. Lebenswoche herum alle erfreuen sollte, dann auch tatsächlich pünktlich und mit voller Wucht geschah, machte mir das Buch noch mehr Angst. Das sollte jetzt also alle paar Wochen aus meinem kleinen, süßen Mädchen werden? Ein nervendes, quengelndes, mit nichts zu beruhigendes kleines Monsterchen? Ja. Genau das sollte es. Die Maus nahm jeden einzelnen der Schübe mit Anlauf mit, und nach jedem Schub war ich mir sicher, DAS war der schlimmste Schub von allen gewesen. Zugegeben verstehe ich auch schon, was die buchkritischen Mamas dazu bewegt, all das nicht zu ernst zu nehmen. Denn wie heißt es so schön? Richtig: Irgendwas ist immer. Im ersten Jahr beschäftigt ein heranwachsendes Wesen so ziemlich alles dermaßen, dass es aus der nicht mal erlernten Ruhe kommt. Rhythmus finden, neue Leute kennenlernen, Nahrungsumstellungen, Zähne, Bauchschmerzen und all die anderen Horrorerlebnisse eines Menschleins, das gerade ein paar Wochen auf diesem Planeten wohnt.
Dennoch kann ich sagen, dass die Maus wirklich pünktlich auf die Sekunde dann schubte (ihren Rhythmus suchte, neue Leute kennenlernte, ihre Nahrung umstellen musste, zahnte, von Bauchschmerzen gequält wurde), wenn Van de Rijt es mir versprochen hatte. Und ich hatte schon nach den ersten paar Sprüngen keine Lust mehr. Nein, bitte nicht wieder "zurück zu Mama", wenn sich der nächste Sprung ankündigt. Kein "isst mehr, schläft weniger" und schon gar kein "wird als nörgelig, unzufrieden und schwierig beschrieben". Mir grauste immer schon davor, schon VOR dem Schub das nächste Kapitel anzusehen und ins Schwitzen zu geraten. Natürlich nahm die Maus immer nur die negativen Dinge mit - wobei das Buch in seinen Sprung-Ergebnissen auch von Kapitel zu Kapitel zu protzigeren Übertreibungen neigte. Nein, mein 6 Monate altes Kind konnte nach dem Sprung weder stehen noch laufen - aber ich war trotzdem froh, ihn überlebt zu haben. Gemischt mit den Zähnen waren diese Schübe jedenfalls eine echte Grummelmamaherausforderung. Und als die Autoren auf der letzten Seite nach dem 55. Woche Schub auch noch still und leise darauf hinwiesen, dass noch 2 weitere Schübe folgen sollten, hatte ich wirklich die Schnauze voll von all dem. Und da schwor ich mir: Nie wieder ein Kind. DAS mache ich ganz sicher nicht ein zweites Mal mit. Um keinen Preis. Niemals. Ich bin doch nicht blöd!
Und als das Mäuschen dann da war, pustete ich den Staub von dem Buch und schlug es auf. Ich hatte verdrängt, was darin stand und ich war nicht sicher, ob ich die Erinnerung daran auffrischen wollte. Merkwürdigerweise hatte ich mittlerweile zwei dieser Bücher und konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann und woher das zweite dazugekommen war. An dieser Stelle muss gesagt sein, dass Mütter und Väter Gott sein Dank sehr viel von dem schnell vergessen und verdrängen, was sich während der Geburt und die Monate danach so abspielt, sonst wäre dieser Planet wohl nur von Waschbären und Tauben bewohnt. Doch als ich das Buch wieder in den Händen hielt und die ersten paar Seiten überflogen hatte, wurde mir ganz schlecht. Und wir sprechen hier nicht von einer "Oh Mist, ich habe vergessen, Oma anzurufen"-Übelkeit, sondern von der ausgewachsenen "Oh Gott, morgen früh ist mündliche Prüfung und ich habe dieses Kapitel vergessen zu lernen"-Übelkeit. Kurz überlegte ich schon, ob ich das Mäuschen vielleicht noch gegen einen Gutschein eintauschen könnte - aber merkte schnell, dass sich niemand auf diesen Handel einlassen würde. Also hieß es: Volle Schubkraft voraus in die nächste Sprungrunde.
Und siehe da: Das Mäuschen schubte nicht wie die große Schwester. So oft ich auch blätterte und rechnete und las, kein Schub wurde derart ausgelebt, wie ich es gewohnt war. Gegen Ende der Zeiten, die in dem Buch beschrieben waren, hatte sie ein bis zwei miese Tage. Aber nicht mehr. Auch die bisherigen sechs Zähne nahm sie relativ gelassen entgegen, obwohl sie die nach 11 Monaten Zahnlosigkeit innerhalb von 18 Tagen herbeigezaubert hatte. Und was soll ich noch sagen? Wir haben soeben das letzte Kapitel überlebt - und warten jetzt noch auf die zwei Schübe, die noch ohne Beschreibungen folgen sollen.
Am Ende kann ich sagen: Nie wieder ein Kind! DAS mache ich ganz sicher nicht ein drittes Mal mit. Um keinen Preis. Niemals. Ich bin doch nicht blöd!
Denn die negativen Erwartungen waren fast noch schlimmer als das, was tatsächlich passierte. Und allen Müttern, die diese Schübe, ob sie nun existieren oder nicht, noch vor sich haben: Keep calm and don't panic. Alles wird gut - und nach dem ersten Lebensjahr wirkt alles, was man bis dahin als unfassbar anstrengend empfunden hat, gar nicht mehr so schlimm. Großes Grummelmamaehrenwort.
Und wer jetzt denkt, dass der Schub EINES Kindes schon anstrengend ist, der kann HIER hautnah miterleben, wie und ob meine liebe Freundin Inmarcesible Zwillingsschübe übersteht!

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