Als ich das Thema für die heutige Kursfolge festlegte, fand ich es nur schlüssig, dass wir nach dem Denken und Fühlen auch unser Handeln achtsamer wahrnehmen sollten. Doch als ich mich dann hinsetzte, um über den genauen Inhalt nachzudenken, merkte ich, dass ich mir damit selbst eine große Herausforderung geschaffen hatte, weil ich ja gar nicht weiß, was Du den lieben langen Tag so alles tust und worauf ich also Deine Aufmerksamkeit lenken könnte. Schließlich kennen wir uns (bis auf wenige Teilnehmer) noch nicht persönlich.
Natürlich habe ich eine Lösung gefunden, sonst würdest Du jetzt vor einem leeren Bildschirm sitzen. Mir kam die Idee, einfach einen Bewegungsablauf herauszugreifen, den wir alle häufig machen.
Übung 6.1: Achtsam telefonieren
Ich möchte Dir nun Schritt für Schritt aufzeigen, was es bedeutet, an einer so alltäglichen Tätigkeit wie dem Telefonieren die Achtsamkeit zu üben.
Schritt 1: Wahrnehmen, was Du tust
Nimm Dir vor, zuerst einmal nur genau wahrzunehmen, wie Du telefonierst. Verhalte Dich einfach so, wie Du es beim Telefonieren immer tust. Ändere in diesem Schritt nichts. Du erinnerst Dich sicher an die Übung vom ersten Tag. Ulf schrieb dazu: “Ich habe mich im Verlauf der Sitzübung immer unwohler gefühlt, weil Du ja wolltest, dass ich ‘auskoste’, sprich mir achtsam bewusst mache, dass ich da ja gar nicht wertschätzend für mich herumsitze. Danke!” Lasse Dir auch heute wieder Zeit, Dich genau zu beobachten und stelle Dir folgende Fragen:
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Wie fühlt sich Dein Körper an? Wie bewegst Du Dich? Sitzt oder stehst Du? Suchst Du Dir einen bequemen Platz? Wie hältst Du den Hörer? Locker und entspannt? Ans Ohr gepresst? Nimmst Du eine angenehme Haltung ein, die möglichst wenig Energie kostet? Wie sind Deine Schultern und Dein Nacken? Sind Deine Bewegungen möglichst angenehm? Wie viel Anstrengung kostet Dich das Telefonieren?
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Welche Bestandteile der Situation nimmst Du zuerst und am deutlichsten wahr? Welche sind eher im Hintergrund? Welche entgehen üblicherweise Deiner Aufmerksamkeit?
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Musst Du Dich anstrengen, um Deinen Gesprächspartner zu verstehen? Konzentrierst Du Dich auf das Gespräch oder bist Du mit Deinen Gedanken ganz woanders? Oder mit den Augen bei etwas anderem?
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Bist Du entspannt oder angespannt? Achte auch auf Deine Gesichtsmuskulatur, die Stirn, Zähne und Zunge. Ein Lächeln kann Dein Gesprächspartner übrigens hören! Wie geht Dein Atem?
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Hast Du es eilig oder kannst Du Dir Zeit lassen? Wie wirkt sich Eile oder Gelassenheit auf Deinen Körper, Deine Stimmung und das Gespräch aus?
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Wie ist Deine Stimmung in der Situation?
Schritt 2: Experimentieren
Nachdem Du Dich einige Male beim Telefonieren nur beobachtet hast, beginne damit, einzelne Elemente zu verändern. Und überprüfe immer wieder, wie sich diese Veränderungen auf Deine Stimmung und auf andere auswirken. Was genau Du veränderst, hängt natürlich davon ab, was Du selbst beobachtet hast und was Du gern Neues ausprobieren möchtest. Hier einige Anregungen:
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Du könntest eine bequemere oder entspanntere Körperhaltung einnehmen. Du könntest Dir eine besonders angenehme Sitzgelegenheit suchen (weißt Du noch?), falls Du länger telefonierst.
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Du könntest den Hörer lockerer halten und nicht so fest ans Ohr pressen. Vielleicht Deinen Gesprächspartner bitten, etwas lauter zu reden, wenn Du ihn nicht so gut verstehst. (Ja, das darfst Du!) Oder die Hörerlautstärke verändern. Und jetzt wird es spannend: Du könntest sogar so übermütig sein und den Telefonhörer einmal ans andere Ohr halten! Und nun die Krönung: Du könntest den Lautsprecher anschalten und so den Hörer ganz liegenlassen. Das ist dann schon die höhere Schule.
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Falls Du oft in Eile bist, wenn Du telefonierst, könntest Du feste Telefonzeiten einplanen, in denen Du Dir wirklich Zeit für den anderen nimmst.
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Du könntest die Gesprächspartnerin bitten, etwas später anzurufen, wenn es gerade ganz ungünstig ist. (Ja, auch das darfst Du!)
Das Wichtige an diesem Schritt ist, dass Du Dir erlaubst, etwas Neues auszuprobieren. Etwas einmal anders zu machen als bisher (es gibt mindestens eine Teilnehmerin, die bei diesem “einmal anders” jetzt gerade hellwach geworden ist, vor allem, weil wir erst vorgestern miteinander telefoniert haben ). Diesen einen kleinen Moment anders zu gestalten und Dir damit selbst zu zeigen, dass Du auch achtsam mit Dir selbst umgehst, indem Du achtsam mit den kleinen Dingen des Alltags umgehst.
Schritt 3: Muster unterbrechen
Oft beschwingt uns dieses Experimentieren. Und doch geschieht es schnell, dass die alten Gewohnheiten zurückkehren. Schließlich hat man oft jahrelang in genau der einen Position telefoniert oder am Computer gesessen oder Einkaufstaschen die Treppe hochgeschleppt. Oder wie war das mit dem Sitzen in Schritt 1? Sitzt Du gerade bequem? Siehst Du? Genau deshalb ist es so wichtig, immer wieder aktiv unsere Aufmerksamkeit auf diese Dinge zu lenken, das Bewusstsein dafür wach zu halten. Deshalb gilt für diese Phase: Immer wieder innehalten und den ersten Schritt der heutigen Übung wiederholen, schauen, was Du gerade tust oder wie die Dinge sind, und anschließend entscheiden, ob Du es weiter so tun oder etwas ändern willst. Überlege einmal, wie Du Dich daran hindern könntest, immer wieder in alte Muster zurückzufallen.
Neben dem Telefonieren sind noch folgende Situationen besonders gut dazu geeignet, ihnen Deine ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Du kannst aber auch jede andere Tätigkeit in Deinem Leben verwenden. Ein Freund von mir formulierte es einmal so: “Eigentlich sollten wir alles so konzentriert tun, wie dann, wenn wir über eine spiegelglatte Eisfläche laufen!”
- Schreiben
- Am Computer arbeiten
- Lasten tragen (Rucksack, Einkäufe, Tascheninhalt)
- Treppen steigen
- Autofahren
- Warten (in der Kassenschlange, auf den Bus, beim Arzt)
- Mit Kindern leben (Anziehen, gemeinsames Malen, Spielen, Herumtragen)
- Im Garten oder im Haus arbeiten
- Mit dem Partner reden
- Einen Apfel genießen
Handlung kommt von Hand
Unser Denken ist wichtig, denn es bildet die Grundlage für alles. Besonders wichtig sind auch unsere Gefühle, denn sie leiten uns und geben unserem Leben seine Würze. Doch wenn wir es genau betrachten, stellen wir fest, dass wir uns nur durch unser Tun, durch unser Handeln tatsächlich verwirklichen können. Und in fast allen Tätigkeiten wirken unsere Hände mit. Davon kommt ja auch das Wort Handlung. Deshalb achte heute einmal ganz besonders auf diese empfindsamen, geschickten und kräftigen Helfer, die Dir geschenkt wurden.
Übung 6.2: Die Hände achtsam behandeln
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Schüttle Deine Hände locker und behutsam.
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Nimm nun den kleinen Finger der linken Hand zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand und “behandle” ihn durch sanftes Drücken und Streichen und durch winzige Drehungen.
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Behandle so alle Finger. Achte dabei auf die Besonderheit jedes einzelnen Fingers und darauf, was er Dir bedeutet.
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Lass dann beide Hände ruhen (zum Beispiel auf dem Tisch oder in Deinem Schoß). Spüre nun, wie die Lebendigkeit Deiner Hände in Dich einströmt.
Übung 6.3: Mit den Händen achtsam behandeln
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Reibe Deine Hände aneinander, um sie “energetisch aufzuladen”.
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Lege dann Deinen Kopf in die Hände und überlasse ihn der entspannenden und zugleich anregenden Wirkung.
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Ähnlich kannst Du Schmerzen und Verspannungen behandeln. Oft wirkt die Behandlung für andere oder durch andere noch intensiver.
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Vertraue Deinen Händen und entdecke ihre heilenden Kräfte, die den Menschen seit Jahrtausenden helfen.
Sicher hast Du bei diesen Übungen gespürt, dass wir nicht nur zwei Hände haben, sondern wir sind auch unsere Hände, und zwar eine linke Hand und eine rechte Hand. Überlege einmal, was das für Dich bedeuten könnte und mache erst dann die nächste Übung.
Übung 6.4: Ineinander
Lege Deine beiden Hände ineinander und spüre die Entspannung und ein sanftes Strömen von der einen Hand zur anderen. Alte Frauen auf dem Land sitzen so oft nach getaner Arbeit. Vielleicht entdeckst Du einen Unterschied, ob die rechte oder die linke Hand gibt oder empfängt. In vielen Religionen wird Andacht und Gebet mit dem Zusammenlegen beider Hände unterstützt, so dass auch das Göttliche noch in unseren Händen liegt.
Übung 6.5: Üben mit der nicht-dominanten Hand
Schreibe das Wort Achtsamkeit mit Deiner nicht-dominanten Hand von hinten nach vorn. Wiederhole es mehrere Male und achte darauf, wie schnell Deine nicht-dominante Hand lernt und das Schriftbild sich verbessert. Wiederhole diese Übung nach ein, zwei, mehreren Tagen und achte darauf, wie gut Du es noch kannst.
Ich wünsche Dir viel Spaß beim Handeln!
PS: Ich möchte dieses Programm für Dich und andere immer weiter verbessern. Deshalb würde ich mich über einen Kommentar von Dir sehr freuen. Wie hat Dir die heutige Ausgabe gefallen? Was war daran gut? Was hätte ich weglassen können? Worauf bist Du besonders neugierig? Schreibe mir bitte ein paar Zeilen. – Vielen Dank!
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