Schreibkrampf und Schriftkultur

War das ein Drama, als Hamburg im vergangenen Sommer beschloss, Schulkinder nicht mehr mit der verschnörkelten Schreibschrift zu malträtieren, sondern sie die so genannte Grundschrift lernen zu lassen. Diese ist mehr so etwas wie handgeschriebene Druckschrift und damit wesentlich zeitgemäßer. Denn wer schreibt heutzutage denn noch mit der Hand? Dafür ist es eine Freude anzusehen, wie flink kleine Kinderfinger heute schon auf Tastaturen aller Art zugange sind.

So ist das mit den Kulturtechniken: Sie ändern sich. Früher lernten junge Männer, die Karriere machen wollten, reiten, tanzen und fechten. Heute studieren sie Jura oder BWL und kaufen sich ein dickes Auto. Eine gute Handschrift ist in beiden Fällen nicht so wichtig. Und für Mädchen gilt heute in nicht wenigen Regionen dieser Welt noch immer, dass sie eigentlich gar nicht schreiben lernen müssen, um sich um sich um einen Mann, den Haushalt und die Kinder kümmern zu können.

Auch sollte man nicht vergessen, dass die längste Zeit der Menschheitsgeschichte die allermeisten Menschen überhaupt nicht schreiben konnten. Und sie wären nie auf die Idee gekommen, was ihnen damit an persönlichen Ausdrucksmöglichkeiten ihres individuellen Charakters verloren geht. Das Individuum ist ohnehin eine relativ neue Erfindung. Aber um persönlichen Ausdruck ging es beim Schreiben sehr lange Zeit sowieso nicht: Die Kopisten, die die Bücher früherer Zeitalter mit der Hand Buchstabe für Buchstabe abgeschrieben haben, schrieben möglichst in der jeweils geltenden Standardschrift. Persönlicher Ausdruck war den ganz wenigen vorbehalten, die tatsächlich richtig schreiben und lesen konnten – ein guter Kopist konnte oft gar nicht lesen. Denn der Inhalt hätte nur vom korrekten Kopieren der Vorlage abgelenkt. Oder den Schreiber auf dumme Gedanken gebracht.

Dabei sollte man doch annehmen, dass viel wichtiger wäre, was denn geschrieben wird – anstatt darüber zu jammern, dass die Kinder heute nicht mehr lernen, das große S mit einem Schweineschwänzchenkringel oben zu beginnen. Und was es an Schikanen der deutschen Ausgangsschrift noch mehr gibt. Schreiben lernen fand ich toll. Aber es frustrierte mich sehr, dass ich trotz erheblicher Mühe in Handschrift immer nur “ausreichend” bekam – meine persönliche Ausdrucksform interessierte damals leider niemand. Zum Glück kam es in späteren Jahren dann mehr auf den Inhalt an.

Überhaupt: Die Verlotterung der Schriftkultur ist doch wohl vor allem in den Sprechblasen der Politiker zu erkennen und nicht an der Handschrift der Grundschüler. Wenn über das Verlottern der Schriftkultur gejammert wird, wäre das Jammern über abhanden gekommene Inhalte bei dem ganzen Geschreibsel dieser Zeit der wesentlich dringlichere Punkt. Ich sage nur ein Stichwort: Powerpoint!

Mit schicken Diagrammen und bunten Bildchen kann man den Leuten die schwachsinnigsten Dinge andrehen – von Schrottimmobilien über wertlose Staatsanleihen bis hin zu humanem Kriegsgerät und wirkungslosen Medikamenten. Viel wichtiger als irgendwelche Handschriftenschnörkel ist doch wohl, gescheit lesen zu lernen! Und mit dem Gelesenen etwas anfangen zu können. Ob das nun der Beipackzettel für die Kopfschmerztabletten ist, die Werbebeilage für die ultimative Altersvorsorge von der freundlichen Bank nebenan oder der Notabschaltplan fürs Atomkraftwerk: Wichtig ist, dass man kapiert, was da geschrieben steht. In Druckschrift.



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