Quelle: Helmut Mühlbacher
Ihr Lieben,
Heute Abend möchte ich Euch eine Geschichte von Jorge Bucay erzählen:
„Der Suchende“
„Dies ist die Geschichte eines Mannes, den ich als Suchenden bezeichnen würde.Ein Suchender ist jemand, der sucht, nicht unbedingt jemand, der findet. Auch ist es nicht unbedingt jemand, der weiß, wonach er sucht. Es ist schlicht und einfach jemand, für den das Leben eine Suche ist.Eines Tages spürte der Suchende den Drang, nach Kammir zu gehen. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, mit solchen Eingebungen, die von irgendwoher aus seinem Inneren kamen, nicht lange zu fackeln und ihnen einfach zu folgen. Er ließ also alles stehen und liegen und machte sich auf den Weg.Nach zwei Tagesmärschen über staubige Wege sah er in der Ferne Kammir liegen. Kurz vor dem Dorfeingang fiel ihm am rechten Wegesrand ein Hügel auf. Er war von einem wunderschönen Grün überzogen, und Bäume, Vögel und zauberhafte Blumen gab es dort in unendlicher Zahl. Rings um den Hügel zog sich ein niedriger polierter Holzzaun.
Quelle: Astrid Müller
Ein Bronzetor lud ihn zum Eintreten ein. Sofort war das Dorf vergessen, und er gab der Versuchung nach, sich einen Moment an diesem Ort auszuruhen. Der Suchende durchschritt das Tor und begann langsam, zwischen den weißen Steinen umherzuspazieren, die verstreut zwischen den Blumen standen. Er ließ seine Augen wie Schmetterlinge auf jedem Detail dieses farbenprächtigen Paradieses ruhen.Seine Augen waren die eines Suchenden, und vielleicht erkannte er deshalb auf einem Stein jene Inschrift: Abdul Tareg, lebte 8 Jahre, 6 Monate, 2 Wochen und 3 TageEr erschrak ein wenig, als er merkte, dass der Stein nicht einfach nur ein Stein, sondern ein Grabstein war. Es schmerzte ihn, zu erfahren, dass ein so junges Menschenkind an diesem Ort begraben lag.Als er sich weiter umschaute, bemerkte der Mann, dass auch der nächste Stein eine Inschrift trug. Er trat an ihn heran und las: Yamir Kalib, lebte 5 Jahre, 8 Monate und 3 WochenQuelle: Frank Zickerick
Der Suchende zeigte sich zutiefst erschüttert. Dieser hübsche Ort war ein Friedhof, und jeder Stein war ein Grab. Nach und nach begann er die einzelnen Grabsteine zu entziffern. Alle hatten sie ähnliche Inschriften: einen Namen und die genaue Lebenszeit des Toten.Was ihn aber derart in Schrecken versetzte, war die Tatsache, dass der Älteste von ihnen kaum länger als elf Jahre gelebt hatte. Von unendlichem Schmerz überwältigt, setzte er sich nieder und weinte.Der Friedhofswärter kam des Weges und trat auf ihn zu. Er sah ihm eine Weile still beim Weinen zu und fragte ihn dann, ob er um einen Familienangehörigen trauerte."Nein, kein Angehöriger", sagte der Suchende."Aber was ist nur in diesem Dorf geschehen?
Von welchen Schrecken wird dieser Ort heimgesucht?
Warum liegen hier so viele Kinder begraben?
Was für ein böser Fluch lastet auf diesen Menschen,
dass sie einen Kinderfriedhof haben errichten müssen?"Der Alte lächelte und sagte: "Beruhigen Sie sich. Es gibt keinen Fluch.
Wir haben hier einen alten Brauch. Ich werde Ihnen davon erzählen:Wenn ein Jugendlicher fünfzehn Jahre alt wird,
schenken ihm seine Eltern ein kleines Heftchen,
so wie dieses, das ich hier trage, und das hängt er sich um den Hals.
Unser Brauch ist es, dass von diesem Moment an jeder Augenblick,
in dem einem etwas sehr Schönes widerfährt, in diesem Büchlein festgehalten wird.
Quelle: Astrid Müller
Links wird aufgeschrieben, was uns so glücklich gemacht hat.Und rechts, wie lange das Glück gedauert hat.Seine künftige Braut kennengelernt und sich in sie verliebt zu haben.Wie lang dauert die große Leidenschaft, wie lang währt dieses Glück?
Eine Woche? Zwei? Dreieinhalb?Und dann der erste Kuss.
Wie lange hält der große Zauber an?
Eineinhalb Minuten, solang wie der Kuss? Zwei Tage? Eine Woche?Schwanger zu werden und das erste Kind zur Welt zu bringen?Und die Hochzeit der Freunde?Die lang ersehnte Traumreise?Und das erste Wiedersehen mit dem Bruder nach seiner Rückkehr aus einem fernen Land?Wie lange dauert die Freude über diese Momente?Stunden? Tage?Und so halten wir jeden freudvollen Augenblick in diesem Büchlein fest.Jeden einzelnen.Und wenn jemand stirbt, so ist es unser Brauch, sein Büchlein aufzuschlagen und die Glücksmomente zusammenzurechnen, um das Ergebnis auf sein Grab zu schreiben.Denn für uns ist einzig und allein dies die wirklich gelebte Zeit."
Quelle: Astrid Müller
Ihr Lieben,diese Geschichte ist wirklich sehr lehrreich und kann uns auf einen guten Weg führen.Wir haben ja oft die Tendenz, uns vor allem an das, was in unserem Leben nicht so gut war oder ist, zu erinnern, und die vielen schönen Momente, die wir zweifellos schon erlebt haben, zu vergessen. Und im Rückblick erscheint uns dann die Vergangenheit oft düster und dunkel.Wir fühlen uns dann belastet und schreiten mit dem Bündel dieser schlechten Erinnerungen durch den heutigen Tag und haben deswegen auch schon verständlicherweise Angst vor dem morgigen Tag, weil wir befürchten, er könne uns gegebenenfalls wieder etwas Schlechtes bescheren.Vielleicht sollten wir dem Rat dieser Geschichte folgen und uns auch ein solches Büchlein zulegen. Ich habe das vor einiger Zeit getan und führe seitdem eine Art Tagebuch.
Quelle: Raymonde Graber
In dieses Tagebuch trage ich aber nur solche Dinge ein, die mir Freude bereitet haben, ich schreibe Erlebnisse auf, die mich glücklich gemacht haben, ich notiere mir Augenblicke, in denen ich entspannt und glücklich sein durfte, ich schreibe auf, wenn mir etwas gelungen ist und mich mit tiefer Befriedigung erfüllt hat, ich halte in Büchlein fest, wenn ich Begegnungen mit lieben Menschen hatte, wenn ich einen fröhlichen Brief bekam, wenn mich ein lieber Mensch anriefUnd ich schreibe nieder, wenn ich eine wundervolle Radtour gemacht habe, die mich an Ort der Stille geführt hat und mein Herz mit neuer Kraft erfüllt hat.Mancher mag jetzt entgegnen: „Das Führen eines solchen Büchleins kostet aber Zeit und die habe ich nicht!“ Solchen Menschen kann ich nur zurufen: „Wach auf! Wenn Du viel Zeit benötigst für solche Eintragungen in ein solches Büchlein, dann erlebst Du doch auch sehr viel Gutes!"Denn das ist das große Geheimnis eines solchen Büchleins:
Wenn wir es konsequent führen, dann erinnert es uns immer wieder daran, wie viel Gutes wir schon erlebt haben und es heitert uns auf, weil wir erkennen: „Bei allen Schwierigkeiten, allem Leid dürfen wir auch viel Gutes erleben!“
So wird das Büchlein zu einem Ermutiger und zu einer Quelle der Hoffnung, zuversichtlich voranzuschreiten und den jeweils vor uns liegenden Tag mutig im Empfang zu nehmen.
Ihr Lieben,
ich wünsche Euch jetzt einen ruhigen erholsamen unaufgeregten Abend mit Momenten der Ruhe, der Stille und der Erholung und ich grüße Euch herzlich aus Bremen
Euer fröhlicher Werner
Quelle: Helmut Mühlbacher