Schon etwas älter…

Auszüge aus meinem Praktikumsbericht zum Sozialpraktikum vom 19.Januar – 29.Januar 2009 im Förderbereich des Christophorus-Werkes Erfurt:

Das Christophorus-Werk versucht, behinderte Menschen so gut wie möglich zu unterstützen und in die Gesellschaft zu integrieren, indem beispielsweise (betreute) Wohnmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden oder Arbeiten gefunden werden, die die Behinderten ausführen können bzw. Förderschulen errichtet werden.. Im Förderbereich an den Christophorus-Werkstätten Erfurt werden die Beschäftigten, die nicht in der Werkstatt arbeiten können, tagsüber betreut und führen mit Hilfe der Betreuer leichte Arbeiten aus. Es gibt fünf Gruppen mit je etwa 7 Beschäftigten und 2 Betreuern.

Der Tag beginnt für Mitarbeiter und Beschäftigte morgens zwischen 7 und 8 Uhr, wenn alle ankommen. Einige der Behinderten werden von den Eltern gebracht, die meisten kommen mit Fahrdiensten. Die Mitarbeiter holen sie am Auto ab, bringen sie rein und helfen ihnen dabei, Jacke und Schuhe auszuziehen und Hausschuhe anzuziehen. Danach wird in den Gruppen Frühstück gegessen und Morgenkreis gemacht, später, je nachdem was ansteht, gearbeitet, gebastelt, gekocht… Gegen 12 Uhr holt die Gruppe, die Essenswagendienst hat, das Mittagessen aus der Werkstätten-Kantine und nach dem Mittagessen findet Mittagsruhe für die Beschäftigten statt, die Mitarbeiter machen Pause. Ab 14 Uhr geht es dann für alle weiter mit der Teerunde, danach kann sich jede Gruppe individuell beschäftigen, also wieder arbeiten oder Gesellschaftsspiele spielen, bis ca. 16 Uhr, wenn die Beschäftigten abgeholt werden. Meine Arbeitszeiten waren von 7.30 bis 13.30 Uhr.

Die Mitarbeiter behandeln die Beschäftigten niemals von oben herab, sondern als Gleichberechtigte, was auch beim Arbeiten klar wird. Sie versuchen oft, mit den Behinderten ins Gespräch zu kommen und etwas über deren Familien, Freizeitbeschäftigungen usw. zu erfahren und erzählen selbst viel über sich. Jeder achtet die Bedürfnisse des anderen und selbstverständlich spielen auch Benimmregeln, wie zum Beispiel Begrüßung per Handschlag, eine wichtige Rolle.

Gemeinschaft wird im Christophorus-Werk groß geschrieben und in den einzelnen Gruppen herrscht eine familiäre und freundschaftliche Atmosphäre. Die Angebote für die Beschäftigten sind vielfältig: einmal pro Woche hat jede Gruppe Kochtag, einmal Ausflugstag. Man kann sich zur Musikstunde oder beim Chor anmelden, beim therapeutischen Reiten oder zum Sport, es wird viel gebastelt und alle Räume werden von den Gruppen selbst gestaltet. Die Mahlzeiten wurden gemeinsam vorbereitet, Pflichten wie Tisch abwischen etc. verteilt. Nach dem Mittagessen gibt es die Möglichkeit, sich in speziellen, den Gruppenräumen angeschlossenen Ruheräumen hinzulegen und zu entspannen oder zu schlafen. Wenn kein Koch- oder Ausflugstag ist und es im Moment auch nichts zu gestalten gibt, bekommen die Gruppen von der Werkstatt Aufgaben: Schnürsenkel verschiedener Größen in Schachteln einordnen, Gläser in Kartons stellen – Arbeiten, die den meisten Menschen kinderleicht erscheinen, für Behinderte allerdings unerfüllbar sein können. Die Mitarbeiter fördern die Beschäftigten und teilen alles so ein, dass niemand sich überfordert, aber jeder so gut und effektiv wie eben möglich arbeitet: Einige zählen die Schnürsenkel, andere falten die Kartons usw. Den Mitarbeitern kommt hierbei die Aufgabe zu, sich zu überlegen, wie man den Einzelnen fördern kann, also zum Beispiel wie ein Blinder auch arbeiten kann. Für die Sehbehinderten gibt es nämlich beispielsweise von den Mitarbeitern selbst gebaute Würfel o.ä. aus Styropor oder Kork, in die Filmdosen eingelassen werden. Diese Dosen müssen erfühlt werden und schließlich ein Päckchen Schnürsenkel hinein gesteckt werden. Wenn alle Döschen gefüllt sind, werden die Schnürsenkel nun von den Filmdosen in die Schachtel geordnet. Diese Methode wird auch bei Menschen angewandt, die nicht zählen können.

Im religiösen Sinn wird den Beschäftigten im Förderbereich ebenfalls einiges geboten, so ein Morgenkreis jeden Morgen, der zur kurzen Besinnung dient, die Aufgaben für den Tag werden erläutert, ein Lied wird gesungen, das neue Datum an den Kalender angebracht,… Jeden Monat gestaltet ein Bereich des Christophorus-Werkes einen Gottesdienst in der Michaeliskirche und ich hatte das Glück, dass der Förderbereich im Januar an der Reihe war. Der Gottesdienst stand unter dem Thema der Jahreslosung: „Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich.“ Einer der Mitarbeiter des Förderbereiches ist Diakon, er suchte passende Lieder aus, übte sie mit dem gesamten Förderbereich und bereitete ein Anspiel zum Thema vor.

Das Verhältnis zwischen der Einrichtung und den Angehörigen der Behinderten gestaltet sich unterschiedlich und mitunter äußerst schwierig.

Jeder Beschäftigte bringt täglich ein kleines Heft mit, in das die Betreuer und die Angehörigen (bzw. die Pfleger im Wohnheim) wichtige Mitteilungen schreiben. Fast alle Angehörigen unterstützen die Arbeit im Förderbereich so gut wie möglich und suchen das Gespräch und die Hilfe der Mitarbeiter. Manche jedoch sind mit vielen Dingen im Förderbereich nicht einverstanden und sehen nicht ein, dass ihr behinderter Angehöriger nicht rund um die Uhr einzeln betreut und gefördert werden kann. Andere merken nicht, wie wichtig es ist, dass Behinderte gezielt gefördert werden und unterstützen zuhause nicht die Arbeit der Mitarbeiter. Das führt zu Spannungen und teilweise dazu, dass Beschäftigte, die eigentlich sehr viel mehr könnten, ohne die Hilfe der Angehörigen nicht ausreichend unterstützt werden können.

Wenn ich an mein Praktikum zurück denke, gibt es kaum spezielle, mir wichtige Ereignisse, sondern eher den Gesamteindruck, der mich tief beeindruckt hat. Nämlich vor allem die Lebensfreude und Offenheit der behinderten Menschen. Gleich an meinem ersten Tag kamen alle auf mich zu und wollten mich begrüßen und erzählten mir sogleich begeistert von ihrem Leben, obwohl wir uns ja gar nicht kannten und viele von ihnen auch gar nicht richtig sprechen können… In Erinnerung geblieben ist mir der zweite Morgen meines Praktikums: Einer der Mitarbeiter hatte Geburtstag und alle Beschäftigten und Betreuer sangen ihm ein Ständchen, wobei die Beschäftigten zwar alle den Text nicht kannten und nicht richtig sprechen oder singen konnten und trotzdem sehr ergriffen dastanden. Viele fingen an zu weinen, weil sie alles so sehr berührt hat und das hat mich gewundert: Wenn man anderswo, etwa in der Schule, jemandem ein Lied zum Geburtstag singt, dann nuschelt jeder irgendwas vor sich hin, mit den Gedanken woanders und ist froh, wenn es vorbei ist! Ähnlich war es im Gottesdienst: Die Angehörigen der Behinderten saßen da und ließen sich berieseln, während die Beschäftigten aus voller Kehle mitsangen und als einzige (!) beim Beten aufstanden und mitbeteten. Wirklich schockiert hat mich, dass sich manche der „normalen“ Menschen später darüber aufregten, dass einige gesungen und gebetet hatten, obwohl sie nicht sprechen konnten und dementsprechend nur „melodisch geschrien“ hatten. Das regte mich zum Nachdenken an und beschäftigte mich auch nach der Arbeit bzw. nach dem Gottesdienst!!

Während meines Praktikums musste ich oft lachen, wobei ich die Behinderten nicht ausgelacht oder mich lustig gemacht habe, sondern einfach die Komik der Situation mich zum Lachen brachte: So viele skurrile Personen an einem Ort, die alle Regeln unseres heutigen Lebens außer Acht lassen  und sich keine Gedanken machen über Klimakatastrophe oder Ölkrisen oder was auch immer und dabei in allem was sie tun gewollt oder ungewollt lustig sind. Ich finde, dass es gerade Behinderten durch ihre Offenheit und Lebensfreude etc. leicht fällt, ihre Persönlichkeit zu zeigen und auszudrücken, weil sie zum Beispiel nichts von sich verstecken und sich niemals umstellen, um anders zu wirken! Behinderte geben sich so, wie sie wirklich sind und das ist meiner Meinung nach auch etwas, was die sogenannten „Gesunden“ lernen können und müssen.

Mein Umgang mit den Beschäftigten hat sich radikal geändert: In den ersten Tagen wusste ich nicht recht, wie ich mit den Behinderten umgehen sollte, weil mir irgendwie alles, was ich getan habe, „von oben herab“ erschien oder zu steif und schüchtern, ich aber auch nicht wusste, wie ich es anders tun sollte… Erst nach einigen Tagen habe ich gelernt, mich ihnen gegenüber völlig normal zu verhalten und nicht lauter und deutlicher zu sprechen. Andererseits wurde ich in ihren Augen auch „gemeiner“, weil ich nach einer Weile wusste, wer was kann und sie mich nicht mehr „ausnutzen“ und sich füttern lassen konnten.

Ich denke, dass mir das Sozialpraktikum persönlich sehr viel gebracht hat, obwohl ich beruflich nicht in diese Richtung möchte und ein Berufspraktikum meiner Meinung nach ebenfalls sehr empfehlenswert wäre. Ich habe nette und freundlich Menschen kennen gelernt und viel gelernt über respektvollen Umgang miteinander und zwischenmenschliche Beziehungen im Allgemeinen, wie man mit speziellen Problemen und Behinderungen umgeht und wie wichtig es ist, dass Menschen mit Behinderung individuell gefördert und in die Gesellschaft eingegliedert werden. Im Benehmen gegenüber anderen Mitmenschen bin ich feinfühliger und sensibler für ihre Ansichten und Probleme geworden und habe gelernt, unbefangener zu leben. Obwohl die Arbeit nicht körperlich schwer war, erschöpfte sie mich sehr. Trotzdem habe ich mich jeden Morgen auf die Arbeit gefreut und die Zeit genossen. Im Gegensatz zur Schulzeit war ich viel ausgeglichener und glücklicher!!

 Jetzt im nachhinein bin ich froh, dass ich mein Praktikum im Förderbereich des Christophorus-Werkes absolvieren durfte, obwohl das nicht immer so war, denn als ich erfahren habe, dass ich ganz alleine dort sein würde, also ohne andere Praktikanten meines Jahrgangs, wurde mir schon mulmig zumute… Nun weiß ich, dass gerade das gut war, weil ich mich noch intensiver eingliedern musste, da ich ja sonst niemanden gehabt hätte. Gewinnbringend war für mich diese Erfahrung auf jeden Fall, da ich mich selbst auch neu kennen gelernt habe.

Außerdem bekam ich nebenbei noch eine ganze Menge nützlicher Dinge mit auf den Weg gegeben, so zum Beispiel wie man einen leckeren Ameisenkuchen backt.


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