Schiffe versenken


Schiffe versenken
Captain Mooks Laune sank immer weiter. Bis hinab in die tiefsten Tiefen des Nordmeeres, auf dem sein kleines Frachtschiff gegen die Widrigkeiten ankämpfte, die der lange Winter in diesen Gefilden mit sich brachte. Schneidender Wind, Schneegestöber und gemeine Eisberge, denen es auszuweichen galt. Er brauchte seine ganze Erfahrung, die er sich im Laufe seines langen Seebärenlebens angeeignet hatte. Ja, Erfahrung hatte er. Und was hatte sie ihm gebracht? Eben. Nichts.Griesgrämig verzog er seinen Mund zu einer scheußlichen Grimasse. Schneegriesel bohrte sich in seine bärtigen und vom Wind geröteten Wangen. Seine eingefrorene Nase hatte schon beim letzten Wachwechsel kapituliert und den Dienst quittiert. Er fühlte sie nicht mehr. Und als wäre seine gegenwärtige Gesamtsituation nicht schon unerfreulich genug, schallte auf einmal ein schauriges Krächzen über das Deck. Die Elfen übten ihre Weihnachtslieder, kam ihm voller Entsetzen in den Sinn. Engel auf den Feldern singen tönte es in mehreren, disharmonischen Stimmlagen aus der Messe.Er seufzte resignierend. So wie es aussah, würde sich seine Lage in nächster Zukunft nicht verbessern. Eher im Gegenteil. Als das Gloria erklang hatte er kurz das Bild einer Horde ausgehungerter Katzen vor Augen, die sich um den letzten Hering zankte. Was tat er hier nur? Er war ein Pirat, Herrgott nochmal! Und ein verflucht guter obendrein! Sein Name wurde in einem Atemzug mit den gefürchtetsten Vertretern seiner Zunft, wie zum Beispiel Captain Hook oder Captain Cook, genannt. Jahrelang hatte er, Philemon Mook, in allen Gewässern der Welt sein Unwesen getrieben und dabei reichlich Beute gemacht. Seine Lagerräume waren voll mit Schätzen aller Art gewesen. Gold, Silber, Juwelen – eben alles, was das Piratenherz begehrte. Und Rum! Ja, der Rum. Der war in Strömen geflossen, so gehörte sich das.Und nun? Nun waren seine Lagerräume bis zum Bersten gefüllt mit Spielzeug, Stofftieren und Unmengen von Süßigkeiten. Zu Trinken gab es Gewürztee, nur sonntags wurde für jeden eine Tasse Glühwein ausgeschenkt. Glühwein! War das ein Leben für einen Piraten?
Im Flüsterton stieß er einen saftigen Fluch aus. Wenn einer der Elfen, die sich nicht an der Chorprobe beteiligten, ihn hörte, würde es wieder Beschwerden hageln. Diese nichtsnutzigen Spitzohren petzten bei jeder Gelegenheit. Überhaupt steckten sie ihre neugierigen Nasen nur zu gern in sämtliche Angelegenheiten, die sie rein gar nichts angingen. Ein weiteres ärgerliches Grunzen verließ seine, mit einem kuscheligen Schal umschlungene, Kehle. Captain Mook ballte seine Hände, die in im Norwegermuster gestrickten Handschuhen steckten, zu Fäusten. Eines Tages würde er jeden einzelnen Elf eigenhändig über Bord schmeißen, das schwor er sich bei Neptuns Bart. Vierundzwanzig davon befanden sich an Bord des Schiffes, das er im Auftrag des Weihnachtsmannes befehligte. Dabei hasste er alles, was mit Weihnachten zu tun hatte. Am schlimmsten waren diese nicht enden wollenden Gesänge. Mittlerweile waren die Elfen bei dem Klassiker Süßer die Glocken nie klingen angelangt. Captain Mook verdrehte entnervt die Augen.Ein einziger Fehler hatte sein ganzes Leben zerstört. War das gerecht?Noch immer stiegen ihm Tränen in die Augen, wenn er an jenen schicksalshaften Tag vor ein paar Monaten dachte. Tausende Seemeilen vom Nordpol entfernt war er mit seinen Männern durch die wunderbar warmen Gewässer der Karibik geschippert. Von Tortuga aus, wo er seine eigene, uneinnehmbare Piratenfestung gehabt hatte, waren sie in See gestochen. Wehmütig rief er sich sein altes Schiff in Erinnerung. Der prächtige Dreimaster war sein Augenstern gewesen. Gut ausgerüstet und mit fähigen Männern bestückt, hatten sie es mit jedem Feind aufgenommen. Na ja, mit fast jedem.Wie zum Teufel hätte er denn ahnen sollen, dass die hübsche kleine Jolle, die eines Tages vor Barbados in sein Visier geraten war, sich als Urlaubsschiff des Weihnachtsmannes entpuppen würde? Der alte Mann mit dem weißen Rauschebart, der allgemein als herzensgut und fröhlich bekannt war, hatte ihm übel mitgespielt. Mit Hilfe des Christkindes und Knecht Ruprecht, die zur gleichen Zeit in der Karibik im Urlaub weilten, hatte er Captain Mooks Schiff kurzerhand versenkt und seine Männer als Zwangsarbeiter in die Weihnachtswerkstätten am Nordpol gesteckt. Captain Mook schniefte einmal kurz. Die Erinnerungen an diese Schmach stachen ihn noch gemeiner als der Schneegriesel.Beinahe hätte ihn das gleiche Schicksal ereilt, wenn ihm nicht die Umstrukturierung des Weihnachtsgeschäfts zu Hilfe gekommen wäre. Einzig auf die Rentiere konnte sich der Weihnachtsmann nicht mehr verlassen. Ihre Haltung war zu teuer geworden. Allein das Heu, das regelmäßig zum Nordpol importiert werden musste, verschlang Unsummen. Außerdem konnte ein voll besetzter Schlitten mit acht Rentieren bei weitem nicht so viel Ware transportieren wie ein einziges Frachtschiff. Umgerechnet müsste man die Ware, die Captain Mook auf seinem Schiff transportierte, auf zwei Dutzend Rentierschlitten verteilen. Mindestens. Auch der Weihnachtsmann musste in diesen Zeiten die wirtschaftlichen Risiken genau abwägen. Schließlich führte er ein saisonabhängiges Unternehmen. So war er, Captain Mook, vom Weihnachtsmann zum Kommandanten auf der Spekulatius bestimmt worden.Natürlich hätte es ihn noch schlimmer treffen können. Das leugnete er ja auch gar nicht. Wenn er an seine Mannschaft dachte, dir von nun an ihr Leben am Fließband fristen musste … nein, da hatte er es schon besser. Er durfte weiter Seeluft schnuppern, falls seine Nase jemals wieder ihren Dienst aufnahm. Aber … Aber … Aber …
Captain Mook sah sich um. Er wollte ein Piratenschiff befehligen und keinen Kahn, der aussah, als sei er einem Backbuch entsprungen.Die Reling bestand aus Zuckerstangen, die Planken waren von ihrer Konsistenz und Farbe her klassischem Lebkuchen nicht unähnlich. Sein Blick schweifte hinauf zu den Segeln, die im Wind knatterten und sich zu ihrer vollen Größe aufblähten. Sie waren grün. Grün und mit goldenen Sternchen bestickt. Welcher Idiot war nur auf diesen Schwachsinn gekommen? Und dann dieser Name! Dieser seltendämliche Name! Spekulatius! Mal ganz davon abgesehen, dass er genau dieses Weihnachtsgebäck nicht ausstehen konnte, kam er sich als Kapitän dieser auf dem Wasser treibenden Keksdose doch recht albern vor.Er hoffte inständig, während seiner Mission niemals auf ehemalige Kollegen zu treffen. Diese Demütigung könnte er nicht ertragen. Dann würde er sich eigenhändig einen dicken Stein um den Hals hängen und über Bord springen. Kein Elf der Welt würde ihn davon abhalten. Auf der anderen Seite war diese Sorge wohl weitestgehend unbegründet. Andere Piratenkapitäne würden ihn in seiner Aufmachung kaum erkennen. Captain Mook sah an sich herunter, um seine Mundwinkel zuckte es ironisch.Als erstes fiel sein Blick auf die dunkelbraunen Lederstiefel mit der gebogenen Spitze, an deren Ende jeweils ein Glöckchen hing. Rot-weiß-gestreifte Thermostrumpfhosen folgten, darüber trug er eine tannengrüne Pumphose, die ihm bis zu den Knien reichte. Ein scharlachrotes Filzwams mit gezackten Schößen wurde von einem breiten Ledergürtel mit Goldschnalle festgehalten. Komplettiert wurde seine Arbeitskleidung von einer rot-grün-gestreiften Zipfelmütze mit obligatorischem Bommel. Er sah so albern aus. Wie einer seiner Elfen, die immer noch seine Trommelfelle quälten. Ihre Stimmen hallten über Deck. Selbst der Wind weigerte sich, sie mit sich fortzutragen. Eine Gänsehaut überzog Captain Mooks Arme, und das lag gewiss nicht an der schneidenden Kälte. Zu was taugten die Weihnachtselfen eigentlich? Ach, wenn er doch seine Männer an seiner Seite wüsste … 
Captain Mook seufzte schwer und wäre um ein Haar in tiefes Selbstmitleid versunken, wenn er nicht just in diesem Augenblick gestört worden wäre.Ein Elf schlitterte über das vereiste Deck geradewegs auf ihn zu. Mit rudernden Armen hielt er mehr schlecht als recht das Gleichgewicht. Schließlich prallte er ungelenk gegen die Zuckerstangenreling. Und sowas wollte ein Seemann sein!Captain Mook verbiss sich einen passenden Kommentar und setzte ein mäßig freundliches Gesicht auf. Ja, es zeichnete sich sogar der Anflug eines Lächelns auf seinem Mund ab. Die Elfen verabscheuten schlechte Laune. Hätte er sich anmerken lassen, dass er hier an Bord am liebsten alle zum Teufel jagen würde, dann hätten sich sämtliche Elfen ins Zeug gelegt, seine schlechte Laune zu vertreiben. Und das hätte ihm erst recht die Stimmung vermiest.   „Nummer Eins“, sagte Captain Mook ruhig. Er war selbst überrascht, wie warm seine Stimme klang. „Was hat dich denn dazu veranlasst, die Probe vorzeitig zu verlassen?“Noch so eine bekloppte Idee, den Elfen keine Namen zu geben, sondern sie durchzunummerieren. Bitte, wenn der Weihnachtsmann es so haben wollte. Captain Mook hoffte jedenfalls, dass er nach der Weihnachtssaison genug Abbitte geleistet hatte. Dann würde er sich ein neues Schiff kaufen und wieder sein Unwesen in der Karibik treiben. Ohne Pumphosen und Zipfelmütze, aber das verstand sich von selbst.Der mit Nummer Eins angesprochene Elf bibberte vor Kälte. Er hüpfte wie ein Gummiball auf und ab, um sich etwas aufzuwärmen. Ein hoffnungsloses Unterfangen angesichts der zweistelligen Minusgrade.   „C-c-c-captain“, stammelte er. „I-i-ich w-w-wollte f-f-fragen, o-o-ob i-i-ich n-n-nicht h-h-heute s-s-schon d-d-das e-e-erste T-t-türchen ö-ö-öffnen d-d-darf. B-b-bitte!“Ach, darum ging es also. Der Weihnachtsmann hatte, um die lange Seereise etwas angenehmer zu gestalten, einen Adventskalender gestiftet. Gemäß ihren Nummern von eins bis vierundzwanzig durften die Elfen an Bord jeden Tag ein Türchen bis zum Heiligen Abend öffnen. Diese neugierigen, kleinen Biester!   „Heute? Mein lieber Freund Nummer Eins, du weißt doch genau, dass wir heute noch kein Türchen öffnen dürfen. Erst ab morgen, denn morgen ist der 1. Dezember.“   „I-i-ich w-w-weiß, a-a-aber i-i-ich …“Der Elf machte eine Pause, sammelte sich und riss sich dann zusammen.   „Aber ich bin so furchtbar neugierig.“Lediglich seine klappernden Zähne verrieten noch, dass er erbärmlich fror.    „Morgen“, entgegnete Captain Mook mit beinahe väterlicher Bestimmtheit. „Gleich nach Beginn der Frühwache darfst du das erste Türchen öffnen.“   „Schade.“   „So ist das eben, Nummer Eins. Wenn es allerdings nach mir ginge …“Für einen Augenblick keimte Hoffnung in den himmelblauen Elfenaugen auf. Captain Mook zuckte mit den Schultern. „Aber das geht es nun einmal nicht. Befehl von ganz oben. Tut mir leid. Ich will mir keinen Ärger einhandeln.“   „Da kann man wohl nichts machen.“Traurig ließ der Elf den Kopf hängen. Zu seinem Erstaunen ging Captain Mook diese Geste mehr ans Herz, als er je für möglich gehalten hätte. Er wurde doch durch diesen ganzen Weihnachtszirkus nicht noch weich wie zu lange gelagertes Spritzgebäck? Dann konnte er sich ja gleich den Gnadenschuss geben. Wie von selbst legte sich seine schwielige rechte Hand auf die schmale Schulter des Elfen. Captain Mook glaubte nicht, was er da tat. War er denn von allen guten Piratengeistern verlassen? Der Elf lächelte selig.   „H-h-haben Sie vielleicht Lust, mit uns zu proben? S-s-sie haben bestimmt eine wundervolle B-b-bassstimme.“   „Aber klar“, hörte Captain Mook sich zu seiner Überraschung sagen. Was war denn nur mit ihm los? Das durfte doch alles nicht mehr wahr sein! Was war nur aus ihm geworden? Und noch schlimmer: was sollte noch aus ihm werden? Er war kaum einen Tag lang Kommandant auf der Spekulatius und hatte noch so viele Tage vor sich! Captain Mook sah sich schon im Kreis seiner ihm unterstellten Elfen den Solopart von Little Drummer Boysingen. Er, der in seinem Leben bestenfalls unflätige Trinklieder gegrölt hatte … Beim Klabautermann, er musste etwas unternehmen! Aber was? Mittlerweile hatte sich Nummer Eins freundschaftlich bei ihm untergehakt und zog ihn ohne weiteren Widerstand mit sich unter Deck. Da hatte er nun den Salat.Und so verging der erste Tag auf See im Dienst des Weihnachtsmannes.Als sich die Dunkelheit längst über den Nordhimmel gelegt und den Blick auf die funkelnden Sterne frei gegeben hatte, sangen die Elfen mit dem nicht mehr ganz so griesgrämigen Captain Mook in ihrer Mitte immer noch schrecklich falsch – aber sie hatten Spaß dabei und freuten sich umso mehr auf die nahende Adventszeit.

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