Schiermonnikoog , Teil 2

Schiermonnikoog , Teil 2

Foto copyright by Stephanie Hofschläger /pixelio.de

Als wir nach 4 Wochen wieder nach Hause fahren mussten, waren die Kinder und ich wirklich gut erholt.
Marcos Pseudo-Krupphusten war verschwunden. Das Reizklima hatte gewirkt und es ging ihm wieder gut. Ich war so froh darüber. Auch bekamen die Kinder in dem Jahr danach keine grippalen Infekte mehr.
Das war im Jahr zuvor noch ganz anders gewesen. Alle paar Wochen brachte ein Kind einen Infekt entweder aus dem Hort oder aus der KiTa mit nach Hause. Das war dann immer schwierig, die Krankheiten der Kinder mit der Arbeit zu vereinbaren. Meist war es  so, dass der/die Kranke sein Geschwister ansteckte und ich kurz hintereinander 2 kranke Kinder zu versorgen hatte.
Wie konnte ich das meinem Chef klar machen? Damals gab es pro Kind pro Kalenderjahr 5 Tage, in denen die Krankenkasse den Verdienstausfall bezahlte, wenn man eine Bescheinigung vom Kinderarzt über die Dauer der Krankheit des Kindes bekam und man versicherte, dass niemand anders sonst die Pflege des kranken Kindes übernehmen konnte. Diese 5 Tage pro Kind reichten mir zu dieser Zeit keinesfalls aus. Die Kinder lagen im Gesamten gesehen wesentlich länger mit Fieber im Bett.
Ich konnte nicht alle paar Wochen entschuldigt deswegen zuhause bleiben, also begann ich meinen Jahresurlaub dafür zu nehmen, so dass der sich wenigstens abbaute und ich nicht in der Statistik der Fehlzeiten nach oben rutschte.
Erst die Kur brachte eine Besserung dieses Problems. Beide Kinder waren danach wesentlich robuster und widerstandsfähiger.
Ende des Jahres - also ca. 9 Monate nach Ende der Kur - bekam Marco erneut einen Pseudo-Krupp-Anfall. "Oh nein" dachte ich, "es fängt wieder an". Ich sollte recht behalten, die Anfälle häuften sich wieder.
Deswegen wollte ich unbedingt im nächsten Frühjahr mit meinen Kindern wieder eine Kur auf Schiermonnikoog machen. Leider war es damals bereits so, dass man 3 Jahre warten musste, bis man erneut eine Kur bewilligt bekam. So lange konnte ich nicht warten. Marco brauchte dringend und schnell nochmals einen Aufenthalt dort und ich überlegte hin und her, wie ich es bewerkstelligen konnte, bereits ein Jahr später wieder in den Genuss dieser Luftkur zu kommen.
Da gab es einerseits die Möglichkeit, als Selbstzahler mitzureisen. Aber das war für meine finanziellen Verhältnisse viel zu teuer. 4 Wochen hätten für uns drei ca. 4.500 DM gekostet. Dieses Geld hatte ich einfach nicht. Es musste noch einen anderen, kostengünstigeren Weg geben.
Dann kam mir DIE Idee: ich nahm mir vor, bei der Caritas nachzufragen, ob sie noch Betreuer für die nächste geplante Mutter-Kind-Kur brauchten. Ich würde mich als Kinderbetreuerin anbieten, gegen freie Fahrt, Kost und Logis für meine Kinder und mich.
Also rief ich am nächsten Tag die zuständige Dame von der Caritas an. Ich kannte sie ja noch vom letzten Mal. Ich erklärte ihr Marcos gesundheitlichen Zustand und erzählte ihr von meiner Idee.
Sie sagte sofort zu! Ich konnte es kaum glauben! Ich bekam tatsächlich die Möglichkeit, als Kinderbetreuerin die Kurmütter und -kinder zu begleiten. Als Gegenleistung bekam ich die gewünschte freie Fahrt, Kost und Logis für die Dauer der 4 Wochen für meine Kinder und mich!
Es war klar, dass es diesmal für mich keine entspannte Zeit werden würde, aber das war mir dieses Mal auch nicht wichtig. Es ging mir einzig und allein darum, meinem Sohn das Reizklima wieder bieten zu können, das ihm so gut getan hatte.
Ich war überglücklich. Ich hatte es geschafft!
Einige Wochen vor dem geplanten Beginn der Kur trafen sich sämtliche Betreuer und Leiter. In einem gemeinsamen Workshop wurde erarbeitet, was den Kurmüttern und  -kindern dieses Mal geboten werden sollte. Zum ersten Mal sah ich hinter die Kulissen der Kur und bemerkte, wieviel Zeit, Arbeit, Organisation und Begeisterung es benötigte, um den Gästen eine so schöne Zeit zu bereiten, wie die Kinder und ich es ein Jahr zuvor genossen hatten.
Das Team war toll. Von Beginn an verstand ich mich mit allen und ich wurde auch sofort von allen freundlich aufgenommen.
Man teilte mir eine der beiden Kindergruppen mit den 5-7-Jährigen zu, die aus 9 Kinder in diesem Alter bestand. Montags bis Freitags würden die Kinder von mir von 9 Uhr bis 12.30 Uhr betreut werden und dann wieder von 15 bis 18 Uhr. Dazwischen waren täglich Teamsitzungen, in denen man den Tag und eventuelle besondere Vorkommnisse besprach. Beim Abendkreis kamen alle Betreuer in einem festen Turnus mal dran. also auch ich. Samstags wurden die Kinder nur vormittags betreut und Sonntags hatte ich frei und konnte mich ganz meinen Kindern widmen.
Puh! Da hatte ich mich ja auf etwas eingelassen. Sonst waren mir im Urlaub schon meine eigenen beiden Kinder zuviel und ich fühlte mich überfordert. Und nun sollte ich gleich 9 Kinder betreuen! Nun gut, ich wollte es ja nicht anders. Außerdem sagten mir die anderen Betreuer, die bereits schon einmal eine Kur begleitet hatten und wussten, wie's geht, ihre Hilfe zu. Das beruhigte mich.
Es würde eine Herausforderung für mich werden, das war klar. Sonst saß ich täglich stundenlang am Schreibtisch vor dem Bildschirm. Doch jetzt war plötzlich Entertainment, Kreativität und Verantwortungsbewusstsein gefragt... und sehr gute Nerven!
Trotz der vielen Unbekannten freute ich mich sehr über diese Gelegenheit und die Kinder und ich konnten es auch diesmal kaum erwarten, bis die Reise losging. Die Kinder fanden es toll, dass ihre Mutter nun zum Kurteam gehörte. Marco wollte unbedingt in meine Gruppe, er war ja gerade fünf Jahre alt geworden, doch ich wollte das nicht und auch die Kurleiterin sagte, dass das nicht gut wäre, denn es würde schwer werden, sein eigenes Kind und die anderen Kinder genau gleich zu behandeln.Daher wurde Marco der zweiten Gruppe der 5-7-Jährigen zugeteilt. Ich fand das richtig, er fand das einfach nur doof.
Bei Bianca gab es keine Probleme. Sie war ja bereits 8 Jahre alt und war daher einer anderen Gruppe zugeteilt.
Der Tag der Abreise war da. Bereits während der Fahrt war ich Ansprechpartnerin der Kinder und Mütter, die im gleichen Bus fuhren. Ich half, wenn es einem Kind während der Fahrt schlecht wurde, hielt die Spucktüte hin, während die Mutter den Kopf des Kindes stützte. Ich unterstützte die Mütter, die zwei oder mehr Kinder dabei hatten, wenn ein Kind aufs Klo musste, während beim anderen die Windel gewechselt werden musste. Ich spielte mit den Kindern Reisespiele, wenn sie nicht schliefen, damit die Mutter etwas zur Ruhe kommen konnte. Meine Kinder beschäftigten sich derweil selbständig oder unterstützten mich bei meinen Aufgaben.
Endlich waren wir auf der Fähre und setzten nach Schiermonnikoog über. Wieder bot sich uns ein überwältigendes Bild, als die Sonne aufging. Es war fast genauso wie ein Jahr zuvor. Und auch die Mütter und ihre Kinder waren fasziniert und genossen diesen Anblick.
Als wir in St. Egbert angekommen waren, hatte ich kurz Zeit, unsere Koffer auszupacken. Dieses Mal hatten wir kein Zimmer mit Galerie. Wir bekamen zwei Zweibett-Zimmer, die durch die Nasszelle miteinander verbunden waren.
Danach war das erste Teammeeting anberaumt. Wir besprachen die Räumeverteilung, welche Gruppe welchen Raum belegte, sahen das Material und die Spielsachen durch und besprachen, was wir am ersten Nachmittag mit den Kindern machen wollten. Ich entschied mich. es ruhig angehen zu lassen. Zuerst wollte ich eine Vorstellungsrunde machen und anschließend mit den Kindern an den Strand.
Der erste Nachmittag für mich als Betreuerin begann. Nervös wartete ich im Gruppenraum auf die ersten Kinder und ihre Mütter. Nach und nach trudelten alle ein. Einige Kinder waren neugierig und erwartungsvoll, manche Kinder waren ängstlich und schüchtern und versteckten sich so halb hinter ihren Müttern. Das war die erste Herausforderung: das Vertrauen der Kinder gewinnen. Ich schaffte es, jedes Kind blieb alleine bei mir und ließ die Mutter gehen, keines weinte. Die anschließende Vorstellungsrunde lief auch gut. Brav sagte mir jedes Kind seinen Namen und woher es kam. Ich stellte mich den Kindern natürlich auch vor.
Alles lief gut bis zu dem Moment, in dem ich sagte, dass wir jetzt raus und an den Strand gehen würden. Da kam plötzlich Leben in die Kinder, die Türe wurde aufgerissen und alle 9 stürzten regelrecht nach draußen. Ein Junge rannte so schnell, dass er in hohem Bogen stürzte. Mein Herz blieb vor Schreck fast stehen! Ich hatte solche Angst, dass er sich verletzt hatte, doch nach einer Schrecksekunde stand der kleine Junge wieder auf und lief weiter, als ob nichts gewesen wäre. In diesem Moment wurde ich mir der großen Verantwortung bewusst, die ich hatte. Jede einzelne Mutter hatte mir ihr Kind anvertraut. Ich war dafür zuständig, dass keinem der kleinen Racker auch nur das Geringste passierte. Doch in dem Chaos, das gerade herrschte, konnte ich dieser Verantwortung einfach nicht gerecht werden und so rief ich mit lauter und donnernder Stimme: "Stop!"
Nicht nur die Kinder, auch ich selbst war ziemlich erschrocken über meinen lauten Schrei. Doch er zeigte Wirkung. Augenblicklich hielten die Kinder inne und drehten sich zu mir um. Jetzt gab ich ruhig, aber bestimmt meine Anweisungen. Erst die Schuhe anziehen, dann die Jacken, anschließend in Zweier-Reihen aufstellen und den Nebenmann/-frau an die Hand nehmen. Gemeinsam dann das Haus verlassen und in normalem Tempo mit mir zum Strand gehen. Erstaunlicherweise funktionierte es jetzt wie am Schnürchen.
Am Strand angekommen, war der feine Sand und die vielen, vielen Muscheln, die man finden konnte, die Attraktion schlechthin.. Den ganzen Nachmittag beschäftigten wir uns mit der Muschelsuche, bestaunten die verschiedenen Muscheln, fanden helle, dunkle, runde oder eckigere, kleine und große, dicke und flache, gezackte oder glatte, einfarbige oder mehrfarbige Muscheln. Mit roten Bäckchen und den Jackentaschen voller Muscheln gingen wir dann wieder zurück zu St. Egbert. Die Mütter warteten bereits auf ihre Kinder. Jedes Kind erzählte mit großen Augen seiner Mutter von dem tollen Strand und zeigte ihr die vielen schönen Muscheln, die es für die Mama gesammelt hatte. Allen waren glücklich und froh - und ich hatte meine Feuertaufe als Kinderbetreuerin überstanden.
Nervlich ziemlich fertig, aber glücklich, ging ich anschließend mit meinen Kindern essen.
In Ruhe essen war jetzt nicht mehr drin. Die Kinder kannten mich jetzt und bei jedem gemeinsamen Essen kam eins oder auch mehrere Kinder zu uns an den Tisch und erzählte etwas. Einerseits war das ein sicheres Zeichen dafür, dass die Kinder mich mochten, genauso wie ich sie mochte, doch beim Essen hätte ich gerne die Zeit ungestört mit meinen Kindern verbracht, es war aber nicht möglich.
Die ersten Tage empfand ich als extrem anstrengend. Doch dann fand auch ich meinen Rhythmus und eine gesunde Einstellung zu meiner Aufgabe und von da an ging alles leichter. Mit der Zeit machte mir mein Betreuerdasein richtig Spaß, ich empfand es als eine gelungene Abwechslung zu meinem sonst eher immer gleich verlaufenden Büroalltag. Jetzt war Ideenreichtum gefragt, Einfühlungsvermögen, aber auch Standfestigkeit und sehr intensives Teamwork. Ich blühte richtig auf und kam aus mir heraus.
Für mich wurde diese Kur zu einer Art Abenteuerurlaub. Nie wusste ich zu Beginn des Tages, wie dieser verlaufen würde. Meine kleinen Freunde begeisterten und überraschten mich jeden Tag aufs Neue.
Durch sie sah ich auch meine eigenen Kinder wieder mit anderen Augen. Ich lernte, sie wieder zu betrachten, wieder besser auf sie einzugehen. Durch die viele Arbeit hatte sich mein Mutterdasein doch ziemlich auf das Versorgen ihrer Grundbedürfnisse reduziert, ich hatte den Blick für sie als kleine Persönlichkeiten aus den Augen verloren. Jetzt fand ich diesen Blick wieder und es gefiel mir, was ich da sah. Bianca war ein hübsches 8-jähriges Mädchen geworden, das schon ziemlich selbständig für ihr Alter war. Wie selbstverständlich kümmerte sie sich um ihren kleinen Bruder, das war sie bereits gewohnt. Sie konnte sich toll ausdrücken, traute sich, ihre Meinung zu sagen. Sie war beliebt bei den anderen Kindern und hatte keine Probleme, schnell soziale Kontakte zu knüpfen.
Marco war ein 5-jähriger Junge geworden, der ein großes Mitteilungsbedürfnis hatte. Er redete viel und lange. Manchmal war er ein kleiner Kaspar, machmal ein kleiner Schelm, manchmal war er anhänglich, manchmal hatte er einen auffallenden Freiheitsdrang. Er war ein Tüftler, baute gerne Dinge auseinander, um zu verstehen, wie sie funktionierten. Und er hatte einen ausgeprägten Bewegungsdrang.
Ich war stolz auf meine beiden Kinder und dankbar, dass ich sie hatte. Auch wenn mir die Arbeit und meine Aufgaben als alleinerziehende Mutter manchmal die Luft zum Atmen nahmen, ich konnte mir kein anderes Leben vorstellen und war zufrieden. Das wurde mir während meiner Kinderbetreuerzeit  wieder klar.
Leider vergingen die 4 Wochen viel zu schnell und der Tag der Heimreise war gekommen. Um eine intensive Erfahrung reicher fuhr ich nach Hause. Bianca hatte sich gut erholt und Marco bekam nach diesem Aufenthalt auf Schiermonnikoog nie wieder einen Pseudo-Krupp-Anfall.
Mein Einsatz als Kinderbetreuerin hatte sich in vielerlei Hinsicht gelohnt. Meine Kinder und ich waren uns wieder sehr nahe gekommen und Marco war gesund geworden.
Das Leben meinte es gut mit uns, davon war ich überzeugt. Gestärkt und voller neuer Eindrücke begann ich wieder mit meiner gewohnten Arbeit.
Ich bemerkte nicht, dass sich erneut dunkle Wolken über uns zusammen brauten.

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