Dass in Eckkneipen das Wort Kinderschänder regen Gebrauch findet, ist wahrscheinlich kaum zu ändern. Weshalb bedienen sich aber Periodika und Radioansager dieses Wortes? Und was benutzt man da eigentlich für ein Wort?
Die Schande mit der Schande
Jemanden zu schänden ist gleichbedeutend mit "in Schande bringen" - die Schande trägt demnach fortan der mit sich, der "geschändet" wurde. Der Kinderschänder ist also jemand, der ein Kind in Schande bringt. Hier stigmatisiert man das Opfer, vermittelt sprachlich, es hätte die Schande mit nach Hause gebracht. Eine Schande ist das!, sagte man gemeinhin, wenn ein Mädchen außerehelich schwanger wurde. Außereheliche Kinder wurden umgangssprachlich in Schande geboren. Und in Schande geboren war man gesellschaftlich noch sehr lange. Noch Willy Brandt musste mit dem Vorwurf leben, ein in Schande geborener Emigrant gewesen zu sein. Statt auf Verständnis und Zuspruch der Eltern zu hoffen, musste sich manche junge Frau anhören, sie hätte die Familienehre geschändet, Schande über ihre Leute gebracht.
Die Schande ist also ein Stigma. Nicht nur für denjenigen, der sie begangen oder fabriziert haben soll, sondern für eine Gemeinschaft. Die Schande beschreibt ein gruppenspezifisches Gefühl für Verstoß oder Ungehorsam, für eine Haltung des Das gehört sich aber nicht! - sie ist insofern immer ein Affront desjenigen, der sie herstellt gegen Regeln und Kodizes eine Gruppe oder einer Gesellschaft. Erinnert sei hierbei an die Blut- oder an die Rassenschande, die in Zeiten der Nürnberger Rassengesetze als Ehrverletzung und Kränkung des damals geltenden guten Geschmacks galt. Man schändete die Volksgesundheit und die Kraft des reinen Volkes, wenn man sexuellen Kontakt mit rassen- oder volksfremden Personen hatte. Die Schande war hier bestimmt nicht als Trost oder Verständnis gemeint.
Das kindliche Opfer eines sexuellen Übergriffs wird mit der Schande belegt, wenn man vom Kinderschänder spricht. Dies ist folglich ein Mensch, der das Kind in Schande stellt. Zwar mag gemeint sein, dass sich ein solcher Mensch schändlich benimmt - gleichwohl verlagert sich sprachlich gesehen die Schändlichkeit auf das kindliche Opfer.
Rückgriff auf die Lingua Tertii Imperii
Ursprünglich hatte die Neue Rechte den Begriff Kinderschänder salonfähig gemacht. Das Thema sexueller Missbrauch von Kindern nutzten Neonazis dafür, um als für eine Mehrheit akzeptabel zu wirken, sich zum ehrlichen Makler zu machen. Das Thema soziale Gerechtigkeit und Ökologie sind weitere Aufhänger, mit der man die so genannte politische Mitte zuweilen ködert, Anknüpfungspunkte für eine schrittweise Akzeptanz des Neonazismus. Der sexuelle Missbrauch von Kindern wird dabei emotionalisiert und aus dem rational zu betrachtenden Täter, der der Rechtssprechung zu überstellen ist, wird in der sprachlichen Dramaturgie des Dritten Reiches ein Kinderschänder.
In der Terminologie von Der Stürmer, jener hetzerischen Wochenzeitung der Nationalsozialisten, fand der Schänder oft Niederschlag. Im August 1925 titelte er, man habe erneut einen jüdischen Mädchenschänder erwischt. Im Juli 1926 fragt er Wer ist der Kinderschänder von Breslau? Und im Februar 1930 berichtet er von Frauenschändern aus Leutershausen. Nur Beispiele, die nichts beweisen, außer natürlich einen wahnhaften Antisemtisimus. Dennoch wird deutlich, dass der Schänder sprachlich reichlich bemüht wurde.
Der Schänder, gleich ob er Kinder, Mädchen oder Frauen in Schande setzte, war letztlich ein Generalangriff nicht auf Kinder, Mädchen oder Frauen, sondern auf das deutsche Kollektiv, auf die Sittenregeln der Volksgemeinschaft. Wenn eine Person als Kinderschänder bezeichnet wurde, dann zeichnet der Begriff des Kinderschänders nicht die Opferrolle des jeweiligen Kindes nach, sondern den Angriff eines Menschen auf ein Kind aus der Volksgemeinschaft. Er hievt das Kind und damit dessen Eltern in die Schande, läßt sie von anderen Volksgenossen mitleidig oder auch abwertend anblicken. Da hat jemand nicht ein Kind sexuell missbraucht, sondern einen Angriff auf das Kollektiv lanciert, den Volkskörper nicht den Körper des Kindes zur sexuellen Befriedigung gebraucht. Hier trifft die Blut- und Rassenschande auf die Kinderschande.
Sexueller Missbrauch als wider die Gesellschaft sublimierter Akt
Der sprachlich benutzte Kinderschänder setzt das Opfer zurück. Es ist kurios, dass gerade diejenigen, die vorgeben, die Belange der Opfer vehement zu vertreten und gleichzeitig diesen Begriff gebrauchen, sich sprachlich vom Opferdiskurs verabschieden. Und unbewusst (oder nicht) erhöhen sie die kriminelle Handlung zu einem Verbrechen nicht nur gegen eine Person oder eine Gruppe potenzieller Opfer, sondern zu einem Verbrechen gegen die gesamte Gemeinschaft. In diesem Rahmen sind Menschen- und Bürgerrechte folglich zunächst ausgeblendet, so wie beim Kampf gegen den Terror diese Rechte die Nachsicht haben. Der Terrorismus gilt ja ebenso als ein Akt gegen die gesamte Gesellschaft, wie begrifflich nun die Kinderschänderei ein Verbrechen nicht gegen Einzelne, sondern gegen alle sein soll. "Verbietet Tierversuche - nehmt Kinderschänder" (Anm.: in der Recherche entdeckte ich, dass das ein beliebter Slogan ist) ist beispielsweise auf Aufkleber gedruckter Ausdruck einer rechtsstaatvergessenen Gesinnung, die sich des Phänomens sexuellen Missbrauchs an Kindern mit Losungen nähert, die a) menschenrechtswidrig und volksverhetzend und b) begrifflich vergesellschaftend sind und folglich rechtsstaatlichen Maximen entgegenstehen.
Verbrechen sind nach rechtsstaatlicher Lesart stets individuelle Akte einer Person an einer oder mehreren Personen. Alles andere wäre Feindstrafrecht, so wie es die Hardliner des Anti-Terror-Kampfes gerne sähen. Das Verhältnis Täter-Opfer ist nicht öffentliche Sache, sondern ein ganz spezielles privates Beziehungsgeflecht - die Straffindung kann zwar öffentlich stattfinden, das Täter-Opfer-Verhältnis ist jedoch kein generell auf die Gesellschaft übertragbarer Akt. Der sexuelle Gebrauch von Kindern ist kein schandtätiger Akt gegen die Gesellschaft, sondern eine kriminelle Handlung im privaten Rahmen gegen Einzelpersonen oder einen zu definierenden Personenkreis, der nicht potenziell, sondern realiter betroffen sein muss. Die Erhöhung der Tat in einen metaphysischen Verbrechensakt gegen jedes Kind der Gesellschaft, gegen alle Eltern dieser Kinder, hat nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun, sondern mit fast schon esoterischer Schande-Rhetorik, wie sie eben dem Nationalsozialismus zu entnehmen war.
Der schmale Grat
Die Medien greifen indessen diesen Begriff auf. Sie benutzen damit einen Begriff, den die Neonazi-Propaganda hoffähig gemacht hat. Bürger- und Elterninitiativen warnen namentlich vor Kinderschändern. Vor Kindergärten sind sich Mütter darüber einig, dass Kinderschändern das Handwerk gelegt gehört. Es gab Berichte, wonach Eltern mit örtlichen Neonazis gegen so genannte Kinderschänder marschierten - Neonazis als Kümmerer elterlicher Sorge. Die Grenzzäune zwischen Besorgnis und faschistoiden Parolen scheinen wirklich sehr durchlässig zu sein.
Und es sind Zeitungen und Radioanstalten, TV-Sender und Magazine, die auf Seite drei den Kampf gegen Neonazis beschreiben und zögerlich, teilweise aber auch vehement befürworten, die allerdings gleichzeitig mit dem Wort Kinderschänder mobilisieren und eine kriminelle Handlung zu einem Verbrechen gegen die Volksgemeinschaft umfunktionieren. Eltern, die normalerweise keine Nähe zu Neonazis haben, rufen Kinderschänder raus! Mütter vor Kindergärten sind betroffen ob der Verbrechen der NSU und sprechen dennoch von Kinderschändern.
Es ist ein schmaler Grat zwischen rückhaltloser Aufklärung nazistischer Verbrechen und dem Benutzen von Vokabular, das aus dieser Sphäre stammt.
Die Schande mit der Schande
Jemanden zu schänden ist gleichbedeutend mit "in Schande bringen" - die Schande trägt demnach fortan der mit sich, der "geschändet" wurde. Der Kinderschänder ist also jemand, der ein Kind in Schande bringt. Hier stigmatisiert man das Opfer, vermittelt sprachlich, es hätte die Schande mit nach Hause gebracht. Eine Schande ist das!, sagte man gemeinhin, wenn ein Mädchen außerehelich schwanger wurde. Außereheliche Kinder wurden umgangssprachlich in Schande geboren. Und in Schande geboren war man gesellschaftlich noch sehr lange. Noch Willy Brandt musste mit dem Vorwurf leben, ein in Schande geborener Emigrant gewesen zu sein. Statt auf Verständnis und Zuspruch der Eltern zu hoffen, musste sich manche junge Frau anhören, sie hätte die Familienehre geschändet, Schande über ihre Leute gebracht.
Die Schande ist also ein Stigma. Nicht nur für denjenigen, der sie begangen oder fabriziert haben soll, sondern für eine Gemeinschaft. Die Schande beschreibt ein gruppenspezifisches Gefühl für Verstoß oder Ungehorsam, für eine Haltung des Das gehört sich aber nicht! - sie ist insofern immer ein Affront desjenigen, der sie herstellt gegen Regeln und Kodizes eine Gruppe oder einer Gesellschaft. Erinnert sei hierbei an die Blut- oder an die Rassenschande, die in Zeiten der Nürnberger Rassengesetze als Ehrverletzung und Kränkung des damals geltenden guten Geschmacks galt. Man schändete die Volksgesundheit und die Kraft des reinen Volkes, wenn man sexuellen Kontakt mit rassen- oder volksfremden Personen hatte. Die Schande war hier bestimmt nicht als Trost oder Verständnis gemeint.
Das kindliche Opfer eines sexuellen Übergriffs wird mit der Schande belegt, wenn man vom Kinderschänder spricht. Dies ist folglich ein Mensch, der das Kind in Schande stellt. Zwar mag gemeint sein, dass sich ein solcher Mensch schändlich benimmt - gleichwohl verlagert sich sprachlich gesehen die Schändlichkeit auf das kindliche Opfer.
Rückgriff auf die Lingua Tertii Imperii
Ursprünglich hatte die Neue Rechte den Begriff Kinderschänder salonfähig gemacht. Das Thema sexueller Missbrauch von Kindern nutzten Neonazis dafür, um als für eine Mehrheit akzeptabel zu wirken, sich zum ehrlichen Makler zu machen. Das Thema soziale Gerechtigkeit und Ökologie sind weitere Aufhänger, mit der man die so genannte politische Mitte zuweilen ködert, Anknüpfungspunkte für eine schrittweise Akzeptanz des Neonazismus. Der sexuelle Missbrauch von Kindern wird dabei emotionalisiert und aus dem rational zu betrachtenden Täter, der der Rechtssprechung zu überstellen ist, wird in der sprachlichen Dramaturgie des Dritten Reiches ein Kinderschänder.
In der Terminologie von Der Stürmer, jener hetzerischen Wochenzeitung der Nationalsozialisten, fand der Schänder oft Niederschlag. Im August 1925 titelte er, man habe erneut einen jüdischen Mädchenschänder erwischt. Im Juli 1926 fragt er Wer ist der Kinderschänder von Breslau? Und im Februar 1930 berichtet er von Frauenschändern aus Leutershausen. Nur Beispiele, die nichts beweisen, außer natürlich einen wahnhaften Antisemtisimus. Dennoch wird deutlich, dass der Schänder sprachlich reichlich bemüht wurde.
Der Schänder, gleich ob er Kinder, Mädchen oder Frauen in Schande setzte, war letztlich ein Generalangriff nicht auf Kinder, Mädchen oder Frauen, sondern auf das deutsche Kollektiv, auf die Sittenregeln der Volksgemeinschaft. Wenn eine Person als Kinderschänder bezeichnet wurde, dann zeichnet der Begriff des Kinderschänders nicht die Opferrolle des jeweiligen Kindes nach, sondern den Angriff eines Menschen auf ein Kind aus der Volksgemeinschaft. Er hievt das Kind und damit dessen Eltern in die Schande, läßt sie von anderen Volksgenossen mitleidig oder auch abwertend anblicken. Da hat jemand nicht ein Kind sexuell missbraucht, sondern einen Angriff auf das Kollektiv lanciert, den Volkskörper nicht den Körper des Kindes zur sexuellen Befriedigung gebraucht. Hier trifft die Blut- und Rassenschande auf die Kinderschande.
Sexueller Missbrauch als wider die Gesellschaft sublimierter Akt
Der sprachlich benutzte Kinderschänder setzt das Opfer zurück. Es ist kurios, dass gerade diejenigen, die vorgeben, die Belange der Opfer vehement zu vertreten und gleichzeitig diesen Begriff gebrauchen, sich sprachlich vom Opferdiskurs verabschieden. Und unbewusst (oder nicht) erhöhen sie die kriminelle Handlung zu einem Verbrechen nicht nur gegen eine Person oder eine Gruppe potenzieller Opfer, sondern zu einem Verbrechen gegen die gesamte Gemeinschaft. In diesem Rahmen sind Menschen- und Bürgerrechte folglich zunächst ausgeblendet, so wie beim Kampf gegen den Terror diese Rechte die Nachsicht haben. Der Terrorismus gilt ja ebenso als ein Akt gegen die gesamte Gesellschaft, wie begrifflich nun die Kinderschänderei ein Verbrechen nicht gegen Einzelne, sondern gegen alle sein soll. "Verbietet Tierversuche - nehmt Kinderschänder" (Anm.: in der Recherche entdeckte ich, dass das ein beliebter Slogan ist) ist beispielsweise auf Aufkleber gedruckter Ausdruck einer rechtsstaatvergessenen Gesinnung, die sich des Phänomens sexuellen Missbrauchs an Kindern mit Losungen nähert, die a) menschenrechtswidrig und volksverhetzend und b) begrifflich vergesellschaftend sind und folglich rechtsstaatlichen Maximen entgegenstehen.
Verbrechen sind nach rechtsstaatlicher Lesart stets individuelle Akte einer Person an einer oder mehreren Personen. Alles andere wäre Feindstrafrecht, so wie es die Hardliner des Anti-Terror-Kampfes gerne sähen. Das Verhältnis Täter-Opfer ist nicht öffentliche Sache, sondern ein ganz spezielles privates Beziehungsgeflecht - die Straffindung kann zwar öffentlich stattfinden, das Täter-Opfer-Verhältnis ist jedoch kein generell auf die Gesellschaft übertragbarer Akt. Der sexuelle Gebrauch von Kindern ist kein schandtätiger Akt gegen die Gesellschaft, sondern eine kriminelle Handlung im privaten Rahmen gegen Einzelpersonen oder einen zu definierenden Personenkreis, der nicht potenziell, sondern realiter betroffen sein muss. Die Erhöhung der Tat in einen metaphysischen Verbrechensakt gegen jedes Kind der Gesellschaft, gegen alle Eltern dieser Kinder, hat nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun, sondern mit fast schon esoterischer Schande-Rhetorik, wie sie eben dem Nationalsozialismus zu entnehmen war.
Der schmale Grat
Die Medien greifen indessen diesen Begriff auf. Sie benutzen damit einen Begriff, den die Neonazi-Propaganda hoffähig gemacht hat. Bürger- und Elterninitiativen warnen namentlich vor Kinderschändern. Vor Kindergärten sind sich Mütter darüber einig, dass Kinderschändern das Handwerk gelegt gehört. Es gab Berichte, wonach Eltern mit örtlichen Neonazis gegen so genannte Kinderschänder marschierten - Neonazis als Kümmerer elterlicher Sorge. Die Grenzzäune zwischen Besorgnis und faschistoiden Parolen scheinen wirklich sehr durchlässig zu sein.
Und es sind Zeitungen und Radioanstalten, TV-Sender und Magazine, die auf Seite drei den Kampf gegen Neonazis beschreiben und zögerlich, teilweise aber auch vehement befürworten, die allerdings gleichzeitig mit dem Wort Kinderschänder mobilisieren und eine kriminelle Handlung zu einem Verbrechen gegen die Volksgemeinschaft umfunktionieren. Eltern, die normalerweise keine Nähe zu Neonazis haben, rufen Kinderschänder raus! Mütter vor Kindergärten sind betroffen ob der Verbrechen der NSU und sprechen dennoch von Kinderschändern.
Es ist ein schmaler Grat zwischen rückhaltloser Aufklärung nazistischer Verbrechen und dem Benutzen von Vokabular, das aus dieser Sphäre stammt.