Sandra Weihs. Das grenzenlose Und

weihs_das_grenzenlose_undDarf ein Buch das? Mich so aufwühlen und erschüttern? Mich gleichzeitig tieftraurig und grenzenlos glücklich machen? Ja. Ja. Und Ja! Ich will vorläufig nur noch solche Texte! Dank Sandra Weihs habe ich meine Messlatte wieder ganz oben verortet. Leicht wie ein Papierflieger ist er nicht, der Roman. Vom ersten Moment, da er mit der Post aus Frankfurt zu mir kam, spürte ich – das ist kein Urlaubsroman, das ist auch keine Weihnachts- oder Neujahrslektüre. Und so kommt es, dass das Buch in seinem hoffnungsvollen Blau schon einige Wochen hier liegt …
Nun ist das Jahr noch so herrlich neu und frisch, die alten Bücher sind gelesen, die neuen warten schon. Überall stapeln sich die Verlagsvorschauen 2016. Ein kleiner Grenzgang also. Ein Spaziergang auf der Grenze zwischen dem alten und dem neuen Bücherjahr. Vor wenigen Tagen im Morgengrauen war ich dann schließlich bereit für Maries Geschichte. Ich habe den ersten Satz zaghaft, den zweiten Satz neugierig gelesen. Schnell war ich über die ersten Seiten hinweg. Ich habe an einem Vormittag das gesamte Buch verschlungen. Und nun hallt der letzte Satz noch lange nach. Was war das, das mich diese 188 Seiten so atemlos hat lesen lassen? Die Story? Die Sprache? Die Figuren? Oder alles zusammen in seiner gesamten Perfektion?

Marie ist 18 Jahre alt, Borderline-Patientin und selbstmordgefährdet. Mut gehört nicht zu ihren Stärken. Und im Spiegel anschauen mag sie sich auch nicht. Sie lebt in einer betreuten WG. Wenn sie sich an ihre Kindheit und die täglich wechselnden Stimmungen ihrer Mutter erinnert, klingt das so: Nie war sie gleich, immer anders, als ich erwartete, und ich mußte immer erst wissen, wie es ihr ging, damit ich wußte, wie ich sein sollte (S. 30). Entsprechend ist Maries Verhältnis zu Männern. Nie ist sie ganz “sie selbst”. Sie mag es, immer erst herauszufinden, was ein Mann von ihr will, was er erwartet, was sie tun muss, damit er sie will.

Bis sie eines Tages Emanuel begegnet, der bei seiner herrlich verrückten Großmutter Hilde lebt. Emanuel ist ganz anders als alle Menschen, mit denen Marie bisher zu tun hatte. Und er tut ihr unendlich gut. Auch wenn sie anfangs glaubt, in Emanuel einen Menschen gefunden zu haben für den gemeinsamen Freitod. Eine zarte Sanftheit legt sich über die Geschichte wie ein durchsichtiger Schleier. Und wo am Anfang der Story ein Mädchen steht, das voller Negativität und mit einem großen schwarzen Loch im Herzen ist, zeigt sich ganz langsam eine empfindsame junge Frau hinter der Maske aus extremer Wut und Verzweiflung. Untermalt von Kurt Cobains “… disorder, disorder, disorder …” dominieren Worte wie abartig, zornig, Hölle, niederschmetternd und Schmerz die ersten Seiten des Romans. Irgendwann aber ist da diese Wandlung. Marie wird sanfter.
Sie lernt, mit ihrer Wut umzugehen. Sie schafft es, eine Umarmung anzunehmen und eine Berührung als angenehm zu empfinden. Und sie erkennt, dass sie dabei immer das verrückte ausgeflippte Mädchen sein darf. Ob mit oder ohne Emanuel. Denn das soll hier kein komplettes Geheimnis bleiben – das Ende ist weder lustig noch schön. Aber sehr sehr versöhnlich.

Sandra Weihs. Das grenzenlose Und. Frankfurter Verlagsanstalt. Frankfurt am Main 2015. 188 Seiten. 19,90 €

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