Sam Harris oder: Warum man sich dem "Bösen" in sich stellen muss

"Menschen, die nicht inmitten des Bösen das Anhalten und Sehen praktizieren können, empfiehlt der Buddha die Tugend als den Weg." (Chih-i)
Theravada-Spezialist Hans Gruber beschäftigte sich kürzlich recht begeistert mit Sam Harris, einem Vertreter des "Neuen Atheismus", der seine Kritik besonders am Islam festmacht und mit mir einige Ansichten teilt, etwa die, dass man keine Religion benötigt, um moralisch gefestigt leben zu können. Harris ist einer, der sich nicht durch Denkverbote einschränken lässt, und so kommt er darauf, dass die Folter eines Menschen, von dem man Informationen zum Schutze vieler bekommen könnte, nicht unmoralischer sein kann als das Auslöschen von Massen durch eine Bombe. Harris' Sprache ist klar, seine Logik überzeugend. Da seine Positionen aber im Einzelfall reaktionärer Politik dienen können, wird er von den (linken) "Spekulativen Non-Buddhisten" nur ungern herangezogen. Dabei teilen sie die Forderung, auch Spiritualität und Meditation radikal wissenschaftlicher Untersuchung zu unterziehen. Harris selbst praktiziert und empfiehlt Vipassana. In seinem Blog findet man Veranstaltungstitel wie "Aufwachen mit Sam Harris", was ja nicht weit von "Erwachen mit Buddha" entfernt ist. Wenn einer allerdings zu aalglatt sein Programm runterspult, werde ich skeptisch. Im Folgenden meine [hier leicht ergänzten] Kommentare an Gruber, die bei ihm nicht veröffentlicht wurden.
Auch ich möchte an eine Neubesinnung des Buddhismus glauben, aber nicht ans Vipassana. Es wurde doch viele Jahrhunderte in Ländern praktiziert, in denen es den diktatorischen Regimen (wie in Myanmar) nicht viel entgegenzusetzen hatte. Vipassana ist zu selbstbezogen. Wir sollten uns eher die Mahaparinibbana-Sutta anschauen, wo Buddha nicht konkret zur Frage des Angriffskrieges ablehnend Stellung bezieht. Daraus könnten wir folgern, dass wir unsere eigene Antwort bitteschön zu finden haben, und vielleicht lautet die hier: Terroristen angreifen.    Eine Meditationsmethode, die modernen Konflikten dieser Art gewachsen sein will, die müsste vor allem eins erreichen – dass ich mich möglichst gut in den anderen hineinversetzen kann. Ich vermag mir dann vorzustellen, WARUM er jemanden vierteilt. Ich kann das nachempfinden. Ich beginne ihn zu verstehen. Dann erst suche ich nach angemessenen Lösungen. Es genügt nur dann, mich selbst zu verstehen, wenn ich in mir wirklich diese Anteile einer “Bösartigkeit” annehme, wenn ich sie mit dem Terroristen teile, wenn ich weiß: "Du bist auch ich. Ich bin auch Du." Wenn ich das von mir weise, dann werde ich wohl die rechten oder geschickten Mittel nicht finden, mit ihm klarzukommen bzw. ihn in Schranken zu verweisen. Es muss zuerst eine Ehrlichkeit herrschen, die ich bei vielen Buddhisten nicht sehe: "Auch ich habe Grausamkeit in mir!" Und dann frage ich: Warum kann ich sie beherrschen und der andere nicht? Und aus dieser Erkenntnis muss ein unmittelbarer und effektiver Handlungswille entstehen, wie er sich in manchen Vipassana-Hoheitsgebieten in Revolten hätte ausdrücken müssen, die aber gar zu spärlich blieben.
Ihrem Text “Dharma gegenüber Buddhismus” kann ich leider so auch nicht zustimmen. Sie reden vom Gewaltpotential mancher Textstellen im Neuen Testament, übersehen aber die Höllen- und niederen Reinkarnationsdrohungen Buddhas im Palikanon. Ich könnte ihnen am Duktus einiger Lehrer aufzeigen, dass diese übernommen werden, um so Schüler zu gängeln und zu manipulieren. Dazu zählt ja gerade auch der Hinweis auf einen Moralkodex, dessen Verletzung zu gewissen Folgen führe. Insofern verstehe ich nicht, wie Sam Harris aus dieser Nummer herauskommen will. Nicht nur ist die Vipassana-Meditation in einen buddhistischen Kontext eingebettet, ob er das will oder nicht (Voraussetzung ist bei Goenka etwa die Vorstellung, dass etwas komme und gehe und so beobachtet wird, was tatsächlich gar nicht vergänglich ist, so lange man es beobachtet, nämlich so lange man lebt, z. B. die Atmung und der Herzschlag). Es gibt also bereits gedankliche Prämissen, und die werden noch akzentuierter, wenn man, wie Harris, die Harmonie mit einer ethischen Motivation sucht. Schon die Grundannahme, es ginge darum, das Leiden zu überwinden, könnte ja falsch sein und müsste von einem redlichen Intellektuellen eigentlich auf den Prüfstand gestellt werden.   Man sollte die Sache einmal pragmatischer angehen. Im Moment ist nicht zu erkennen, dass das Christentum als Monotheismus weltweit mehr Gewalt anwendet als der Buddhismus (siehe den Umgang mit Rohingya). Es geht eher darum, ob der Monotheismus eine Aufklärung durchmachte oder nicht, und das Gleiche gilt für den Buddhismus. Der tibetische Buddhismus hat sie noch nicht bewältigt, da der Dalai Lama sich noch immer politisch einspannen lässt und die Trennung von Religion und Staat nicht überzeugend vollzogen ist, vor allem in der Volkserwartung nicht. Noch in der jüngeren Vergangenheit wurden in Tibet teils grausame Strafen verhängt. Die Tatsache, dass sich Tibeter selbst verbrennen und nicht andere in die Luft jagen, ist ihrer Textinterpretation und -treue zu verdanken, sie wollen nicht in Widerspruch zum Gelehrten geraten. Für muslimische Attentäter ist es möglich, den Dschihad im Koran [faschistisch auszulegen, Buddhisten müssten dafür schon die wenigen Textstellen zum icchantica manipulieren, um sich in Kriegsstimmung zu rechtfertigen.] Die Tibeter wollen ja auch keinen weltweiten tibetischen Staat, der nach ihrem Rechtsssystem funktioniert, es fehlt die Motivation der Scharia-Anhänger.

Interessanter ist, sich mit Harris' zentraler Arbeit als Neurologe auseinanderzusetzen. Auch Harris kam durch die Untersuchung neuronaler Entsprechungen von Überzeugungen - mithilfe der Magnetresonanztomografie - zum Schluss, dass Entscheidungen schon Nanosekunden vor dem Zeitpunkt gefallen sind, wo wir uns deren bewusst werden. Aus dieser Entdeckung in der Hirnforschung wurde in der jüngeren Vergangenheit oft abgeleitet, dass unsere Freiheit nur eingebildet sei, und es wurde neu verhandelt, inwiefern wir eigentlich für unser Verhalten verantwortlich gemacht werden können. Ich erinnere mich, dass ich einmal von einer jüngeren Verlagsmitarbeiterin darauf angesprochen wurde, die offensichtlich von dieser Erkenntnis etwas irritiert war. Mir fiel es schwer, das nachzuvollziehen. In der Folge wurde mir klar, warum.
"Was ist ein Wort, bevor es ausgesprochen wurde?" - "Ich habe dir in dem Augenblick, bevor du die Frage stelltest, geantwortet." (Hsiang-yen Chih-hsien, gest. 898)
Durch die Zenübung ist es m.E. möglich, dieses Wissen, dass vor Eintritt ins übliche Bewusstsein ein Impuls bereits gesendet ist, zu erwerben. Mich überrascht es nicht, dass ich nur eine bestimmte Entscheidung wahrnehme, da sie vorher aus einer breiten Palette von Möglichkeiten entstand. Im Augenblick des Bewusstwerdens ist auch klar, dass der Rest der Palette liegengelassen wurde. Ein Wissenschaftler sollte sich um das Auffinden dieser Palette bemühen, also nicht nur feststellen, wo das neuronale Korrelat einer bestimmten Entscheidung oder Handlung ist, sondern auch, wo die Korrelate der Nicht-Entscheidung und des Nicht-Handelns verbleiben. Dieses "Vor-"Bewusstsein ist dem Buddhismus schon lange bekannt, darum habe ich auch kein Problem damit, mich als frei anzusehen, wenn mein gewöhnliches Bewusstsein erkenntnismäßig hinterherhinkt. In der meditativen Einsichtsübung des Buddhismus ist dieses Bewusstsein skandha, es ist nicht ich, und ich mache mich gewissermaßen auf die Suche (selbst wenn ich das gar nicht plane) nach einem Urbewusstsein, aus dem sich die neuronalen Korrelate speisen könnten. Ist mein Hirn tot, gibt es keine neuronalen Korrelate mehr, dann geschieht auch kein Handeln von "Gui Do" mehr. Von daher bleibt, unabhängig von der Trägheit meines gewöhnlichen Bewusstseins, alles, was ich denke und handle, in meiner individuellen Verantwortung und mir als Person zuschreibbar.    Eine wesentliche Schrift, die uns verdeutlicht, worauf buddhistische Übung abzielen kann, wenn sie mehr als Vipassana leisten möchte, ist das Mo-ho Chih-kuan ("Großes Anhalten und Sehen") von Chih-i (538-597), die überraschend komplexe Meditationsabhandlung eines Lehrers, der sowohl das Zen (Chan) wie auch den Tientai-Buddhismus und den des Reinen Landes beeinflusste. Schauen wir uns an, was Chih-i unserem Uncle Sam zu sagen hat:
"Frage: Sowohl vor als auch nach dem Gedanken ist kein Geist (Bewusstsein). Wenn diese Zustände keine Zeichen tragen, wie kann man sie überhaupt beobachten?
Antwort: Obwohl der Geist vor einem Gedanken noch nicht angeregt wurde, ist er nicht nicht-existent. Es ist wie mit einem, der zunächst nichts tut, dann aber handelt - du kannst nicht behaupten, dass es die Person nicht schon vor ihrem Handeln gab. Wenn es keine Person gäbe, wer würde dann in der Folge handeln? Gerade weil da einer ist, der noch nicht gehandelt hat, kann dann Handeln geschehen. So ist es auch mit dem Geist: Wegen des Nochnichtdenkens kann da die Schwelle eines Gedankens auftauchen. Gäbe es keinen vorgedanklichen Zustand, wie könnte es einen aufkommenden Gedanken gäben? Selbst vor einem Gedanken kann es also nicht sein, dass da kein Gedanke ist, selbst wenn dieser selbst noch nicht als solcher [bewusst] existiert. Und auch nach einem Gedanken, der bereits vergangen ist, kann dieser noch beobachtet werden." (S. 76/Cleary)
Aus einer solchen Meditationsweise folgt, im Gegensatz zum Vipassana, das in den Kontext des Theravada mit seinen strengen Moralvorstellungen eingebettet ist, eine andere Einstellung zur Moral, wie sie Sam Harris vertritt. Er leitet z.B. aus der starken Leistung an Entwicklungshilfe skandinavischer Länder, die überwiegend säkularer Natur seien, ab, dass moralisches Handeln keiner spirituellen Untermauerung bedürfe. Mit der Einordnung dieser Leistung als "gut" (statt Entwicklungshilfe in ihrer Zwiespältigkeit zu sehen), vereinfacht Harris die Moral genau so, wie es der Theravada tut. Bei Chih-i heißt es dagegen: "Weder praktiziert man den Weg, noch praktiziert man ihn nicht. Man verweilt einfach im Reich der Bedrängnis. (...) Die fünf Sünden sind nichts anderes als Erwachen, die fünf Sünden und das Erwachen sind nicht-dualitischer Art." (S. 53) "Im kleinen Fahrzeug wird das Durchbrechen von Ansichten 'Abschneiden' genannt, doch [erst] das Durchbrechen der Gedanken bedeutet 'Unterwerfen'." (S. 47) An einer Stelle (S. 41f./Cleary) zitiert Chih-i eine buddhistische Schrift, in der sogar nach Begehen solcher "Todsünden" wie dem Mord an den eigenen gutherzigen Eltern "keine Übertretung" vorlege, wenn der Geist sich von dem Anhaften an solchen Vorstellungen befreit und erkennt, dass die bedingten Phänomene von ihrer Natur her rein sind und nicht Geburt und Tod unterliegen. Chih-i verwendet hier eine Metapher: "Dunkelheit kann keine Rechte über einen Raum herleiten und sich nicht gegen ihr Vertreiben wehren, nur weil sie schon so lange existierte: Sobald eine Lampe angezündet wird, ist es vorbei mit ihr."  Das Ablehnen dieser Erkenntnis, die von Anfang an auch die Zentradition durchzog und nur moralisch unsichere Menschen wirklich irritieren kann, ist im Übrigen auch der Grund für typische Fehlentwicklungen des westlichen Buddhismus, wie sie sich kürzlich wieder bei der Diskussion um Kriegsbeteiligungen japanischer Zenlehrer entzündete.
Harris oder: Warum sich (Foto: Keller)

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