Saft-Fasten: Eine Tragödie in fünf Akten – 2. Akt: „Gemüse-Komposition“

Alle Teile der Saft-Fasten-Tragödie gibt es hier zu lesen.

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Am zweiten Fastentag müssen wir glücklicherweise keinen Sauerkraut-Saft trinken. Dieses Wissen erfüllt meinen Körper und Geist mit tiefer und demütiger Dankbarkeit. Dafür muss ich heute allerdings Pausenbrote für die Kinder schmieren.

Plötzlich erscheint auf meiner linken Schulter ein kleines Teufelchen. Es stellt sich als ‚Verfressener Fred‘ vor, ist wohl genährt, so dass sein Hemd deutlich über seinem Wohlstandsbäuchlein spannt, und isst gerade genüsslich eine Nutellastulle. Fred fordert mich auf, eine Scheibe Käse, die für das Brot der Kinder bestimmt ist, zu essen. Er sagt etwas, das sich nach „Eine ist keine!“ anhört. Verstehe ihn allerdings kaum, da er den Mund voll mit Nutellabrot hat.

Sofort meldet sich ein Engelchen auf meiner rechten Schulter zu Wort. Es heißt Körner-Klaus, ist eine asketisch-freudlose hagere Gestalt, wie sie häufig in Reformhäusern anzutreffen ist, und trägt selbst gestrickte Socken in braunen Ledersandalen, eine weite Stoffhose sowie eine gebatiktes T-Shirt. Mit aufrichtiger Empörung ruft Klaus: „Stopp! Es ist doch erst der zweite Fastentag. Und außerdem wirst du dir durch den pikanten Käse das Geschmackserlebnis des heutigen Safts verderben.“ Hege große Zweifel an der Richtigkeit seines letzten Satzes. Verscheuche unwirsch Engelchen und Teufelchen von meinen Schultern.

Gemüse-Saft. Kann man trinken, muss man aber nicht.

Gemüsesaft. Kann man trinken, muss man aber nicht.

Überreiche danach den Kindern wortlos ihre Brote und Äpfel, packe meinen heutigen Saft namens „Gemüse Komposition“ ein und mache mich auf den Weg zur Arbeit.

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Inzwischen ist mein Hungergefühlt extrem groß und die Fahrradfahrt ins Büro gestaltet sich ein wenig schwierig. Vor mir fährt auf einem Moped ein riesiges Schoko-Croissant und an der nächsten Ampel warten zwei Schrippen und ein Donut darauf, die Straße zu überqueren. Der überdimensionierte Blaubeer-Muffin, der mir wild zuwinkt, entpuppt sich allerdings als Straßenpolizist, der mich ermahnt, besser auf den Verkehr zu achten. Reiße mich zusammen und erreiche nach dreißig Minuten das Büro.

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Um neun Uhr nehme ich meinen ersten Saft zu mir. Er besteht aus Tomaten-, Möhren-, Sellerie-, Rote-Beete-, Gurken-, Sauerkraut-, Zwiebel- und Bohnensaft sowie Paprikamark. Klingt ein wenig, als hätte jemand wahllos die Reste aus der Gemüsekiste in den Entsafter geschmissen, das Ganze in Flaschen abgefüllt und schließlich „Gemüse-Komposition“ genannt.

Das Etikett verspricht euphemistisch „100% Naturkostsaft aus neun köstlichen Gemüsesorten“. Persönlich würde ich ja nicht auf die Idee kommen, das Wort „köstlich“ auf das Etikett eines Gemüsesafts zu schreiben – zumindest solange Kakaobohnen nicht als Gemüse deklariert sind. Dafür sind alle Zutaten ohne Gentechnik hergestellt. Ein frischer Kaffee aus gentechnisch veränderten Bohnen wäre mir trotzdem lieber.

Egal, das Zeug muss runter! Glücklicherweise ist der Tomatengeschmack des Safts recht dominant, so dass er einigermaßen erträglich schmeckt. Nach dem gestrigen Fitness-Cocktail des Todes bin ich allerdings auch sehr genügsam.

Die Einnahme des ersten Glases ruft sofort Fernweh in mir hervor, ist doch der einzige Ort, an dem ich sonst Tomatensaft zu mir nehme, ein Flugzeug. Allerdings ist es mal wieder nicht erlaubt, Salz und Pfeffer hinzuzufügen, um dem Saft ein wenig Pepp zu verleihen. Wodka darf auch nicht beigemischt werden, um eine Art ‚Bloody Mary‘ daraus zu mixen. Das wäre schön. Noch schöner wäre es allerdings, wenn man zu dem Saft eine Pizza Margaritha essen dürfte. Und wenn man den Saft ganz wegließe. Aber das ist sicherlich auch wieder nicht mit dem Saft-Fasten vereinbar.

Körner-Klaus schaudert es bei meinen fasten-blasphemischen Gedanken. Fred leckt sich die Lippen. Dann isst er einen Schoko-Riegel.

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Stelle im Verlauf des Tages bei den weiteren Saft-Mahlzeiten fest, dass das Fernweh-Gefühl der Gemüse-Komposition schnell abnimmt. Eigentlich ist es schon um 11 Uhr nicht mehr vorhanden, sondern vollkommen verschwunden. Stattdessen tritt der Sellerie-Geschmack immer stärker in den Vordergrund.

Dies ruft Erinnerungen an meine Kindheit hervor, als ich auf dem Weg zur Grundschule immer einen Klassenkameraden abgeholt habe. Meistens war er noch nicht fertig und ich musste in der Küche auf ihn warten. Dort saß sein Vater im gerippten Unterhemd und nahm sein Frühstück zu sich, das größtenteils aus Schwarzbrot, Ilja-Rogoff-Knoblauch-Pillen und Sellerie aus dem eigenen Garten bestand. Jeden Morgen bot er mir von dem Sellerie an und jeden Morgen lehnte ich höflich ab.

Hätte ich damals nur zugegriffen, müsste ich heute diesen Gemüse-Saft nicht trinken. Ihnen erscheint diese Kausalität möglicherweise nicht einleuchtend, aber essen Sie mal zwei Tage nichts, dann bekommen Sie einen vollkommen anderen Blick auf die Zusammenhänge des Kosmos.

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Die stark verminderte Kalorienzufuhr wirkt sich nicht gerade positiv auf meine Leistungsfähigkeit im Büro aus. Probiere nach der 15-Uhr-Saft-Mahlzeit aus, ob der Boden eigentlich bequem genug ist, um sich mal kurz auszuruhen. Er ist es. Um 17.30 Uhr wache ich wieder auf, kippe das letzte Glas Gemüsesaft runter und beende meinen Arbeitstag. Wenn man ihn überhaupt so bezeichnen möchte.

Auf dem Heimweg plagt mich wieder mein Hungerdelirium. Die Straßen sind erneut bevölkert von überdimensionierten Gebäck- und Teigwaren. Wer hätte gedacht, dass ein Spritzkuchen einen Personenbeförderungsschein erwerben kann, aber ich könnte schwören, dass mich ein Taxi überholt, das von einem Schmalzkringel gesteuert wird.

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Zuhause angekommen knobeln die Freundin und ich, wer den Kindern das Abendbrot zubereiten muss. Schlage vor, dass wir anstatt Schnick-Schnack-Schnuck Pizza-Käsekuchen-Vanilleeis spielen. Allerdings können wir uns nicht darauf einigen, was dabei was schlägt. Stattdessen ziehen wir Streichhölzer und ich gewinne. Die Freundin ist von meiner geballten Beckerfaust und meinem triumphierenden „Yes!“-Ausruf wenig begeistert.

Dann hat sie aber den genialischen Einfall, den Kindern weißzumachen, sie seien schon so groß, dass sie sich ihre Brote selbst schmieren dürften. Und wenn sie danach ordentlich den Tisch abräumen, könnten sie noch eine DVD anschauen. Auch die Freundin scheint sich in einem fortgeschrittenen Stadiums des Hungerdeliriums zu befinden, bejaht sie doch sogar die Frage der Kinder, ob auch „Harry Potter, Teil 7“ erlaubt sei. Überlege kurz, zu intervenieren, aber meine Antriebslosigkeit entscheidet sich dagegen.

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Wir überlassen die Kinder, die ihr Glück nicht fassen können, ihrem Schicksal und legen uns ins Bett. Wer fastet, kann nicht auch noch engstirnig und borniert an bürgerlichen Erziehungsprinzipien wie Man-muss-früh-schlafen-gehen-damit-man-morgens-für-die-Schule-fit-ist festhalten, die doch ohnehin dazu dienen, aus den Kindern willenlose Lohnsklaven für das kapitalistische Verwertungssystem zu formen.

Während die Freundin einschläft murmelt sie, sie könne die Drecks-Säfte nicht mehr sehen. Ich widerspreche ihr nicht. Fred nickt und Körner-Klaus schüttelt den Kopf. Gute Nacht!


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