Sacks ohne Sex? Wie man auf sein Leben zurückschauen kann

In der New York Times schrieb Oliver Sacks ("Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte") gerade von seinen Lebermetastasen und blickte auf sein Leben zurück. Ich verdanke dem Neurologen Einsichten in die (stets individuell zu betrachtende) Migräne, mit der ich mich schon mein halbes Leben herumschlage. Und die Erkenntnis, dass teure neue Triptane als Schmerzmittel oft den Schmerz wiederkehren lassen (ich nannte sie mal "die Zigarette der Migräne-Industrie"), den die kaum noch verschriebenen, alten Ergotamine (mit denen Sacks lange arbeitete) schlicht beendeten.   Sacks zeigt sich dankbar für die neun Jahre nach seiner ersten Krebsdiagnose, auch für diejenigen Menschen, die seine Metastasen entdeckten. Dann geht er auf die Autobiografie von David Hume ein, die dieser angesichts seines nahenden Todes verfasste. Auch für die Jahre, die Sacks Hume überlebte, ist er dankbar, da sie mit hoher Produktivität gefüllt waren. Er stimmt mit ihm, trotz ihrer unterschiedlichen Charaktere, in dieser Erkenntnis überein: "Es ist schwer, mehr vom Leben losgelöst zu sein als ich es im Moment bin." Sacks will nach Möglichkeit noch reisen, seine Einsichten und Freundschaften vertiefen, denen, die er liebt, Lebewohl sagen und viel schreiben. Was er nicht will, ist, seine Lieblingsnachrichtensendung im TV weiter verfolgen. Politische Fragen würden sich nicht mehr ihm, sondern den kommenden Generationen stellen. Er schließt damit, dass es ein enormes Privileg und Abenteuer gewesen sei, auf diesem "schönen Planeten" gelebt zu haben. Das klingt irgendwie buddhistisch. So fasst er es zusammen:
"Ich liebte und wurde geliebt. Mir wurde viel gegeben und ich habe etwas zurückgegeben. Ich habe gelesen, Reisen unternommen, nachgedacht und geschrieben. Ich hatte Verkehr ("intercourse") mit der Welt, den speziellen Verkehr zwischen Schriftstellern und Lesern."
Sacks, geboren 1933, machte einschneidende Erfahrungen mit Amphetaminen in seiner Studienzeit, hat gesund gelebt, ging täglich schwimmen, aß Bananenmüsli zum Frühstück und abends Reis mit Fisch. Trotzdem hatte ich bei der Lektüre seiner Worte kein gutes Gefühl. Irgend etwas stimmte da nicht. Ich nahm das zum Anlass, mir zu überlegen, was ich denn, mit 50 Jahren, bei einer solchen Diagnose sagen würde. Plötzlich erschien mir die Aufzählung all der Dinge, für die er dankbar war, als banal. Es fehlte mir auch eine gewisse Ehrlichkeit (z. B. die Frage, warum diese Dösel seine Metastasen nach erfolgreicher Behandlung eines Melanoms am Auge vor neun Jahren nicht früher erkannt haben, obwohl diese angeblich nur eine zweiprozentige Wahrscheinlichkeit hatten). Mir war das alles zu einfach. Natürlich habe auch ich geliebt und wurde geliebt. Auch mir wurde viel gegeben und ich habe etwas zurückgegeben. Auch ich habe gelesen, Reisen unternommen, nachgedacht und geschrieben. Allerdings war das auch schon vor 25 Jahren so. Sollte ich mich nun darüber freuen, dass ein finanziell sicher ganz anders als ich aufgestellter Sacks seine ökonomischen Verhältnisse mit keinem Wort als wichtig erwähnte?    Dann stolperte ich über den letzten Satz des obigen Zitates. "Intercourse", Verkehr mit der Welt, als Autor (gedanklich) mit Lesern. Warum hatte er hier keine Frau erwähnt, warum keine Familie?   Die Antwort ist einfach. Sacks, der zeitweilig unter Gesichtsblindheit litt und sich als schüchtern sieht, lebte allein, heiratete nie und bezeichnet sich als zölibatär. Wie man es von zölibatären Mönchen und Nonnen erwarten würde, ersetzte auch er Hinweise auf die Fleischeslust metaphorisch durch nicht-sexuelle Kontakte mit der menschlichen Gemeinschaft.
   Meine Ausführungen hätten hingegen so geendet: "Ich hatte Geschlechtsverkehr mit der Welt, und oft noch lieber Oralverkehr, besonders den speziellen Verkehr zwischen Freier und Freudenmädchen."
Die Pointe hier ist also, dass ich das alles auch schon vor 25 Jahren hätte sagen können. Demzufolge hätten die genannten Charakteristika eines dankbaren Lebens nicht viel mit einer ausgedehnten Lebensdauer zu tun. Sacks sagt aber auch, zwischen den Zeilen, dass er am liebsten so weitermachen würde wie bisher. Solange sich diese Selbst-und-Andere-Befriedigung in Form von Lesen, Schreiben, Lieben und Kommunikation also nicht abnutzt und langweilig wird, kann man eigentlich schlecht einen Punkt bestimmen, an dem es "reicht". Im Grunde wäre eine ebenso angemessene Reaktion die vehemente Beschwerde: "Die Metastasen kommen zu früh!" Ich würde sofort zustimmen, denn Sacks ist einer der wenigen mir bekannten Zölibatären, denen die Enthaltsamkeit nicht zu Kopf gestiegen ist (d. h. die klar dabei blieben - oder wurden).
In einem tieferen Sinn müssen solche Konzepte jedoch, von einer buddhistischen Warte aus, als behelfsmäßig erscheinen. Nimmt man lieben, geben, denken, lesen, reisen und schreiben weg - was ist dann noch? Welche "Wahrheit" hat dann noch Bestand? Die genannten Kriterien von Sacks Glück mögen tröstlich sein, aber sie sind auch relativ. Ein kleiner Exkurs:
Einmal ging ich mit einem verheirateten einheimischen Reisebüroleiter in Thailand zu einem dämmrigen Karaoke-Schuppen. Es entsprach der thailändischen Gepflogenheit, dass die Ehefrau solche Ausflüge dulden darf (in China ist vielerorts noch heute die Konkubine akzeptiert, und viele Thais sind chinesischstämmig und haben mit ihren Nebenfrauen davon abgekupfert). Dennoch musste der Schuppen irgendwie dunkel sein, weil eine Restscham zu schützen war. Ein bisschen Fummeln vorab, und der Mann hatte seine Gespielin gefunden. Er wartete auf meine Wahl, und ich fragte, was er denn zahlen müsse. Es war doppelt so viel wie ich für gewöhnlich in diesem Land für Freischaffende hinblätterte. Ich lehnte ab und überließ ihn seinem Vergnügen.    Mit den Jahren habe ich zwei Dinge über diese Begegnungen gelernt:    1) Es gibt keinen zwingenden Zusammenhang zwischen den Kosten für Sex und dessen Qualität. Teure Huren waren im Schnitt nicht besser als billige. Als mich kürzlich zwei Leute im Hotel in der gleichen Nacht ansprachen, dass sie sich nebenher was mit der Vermittlung von Edelhuren verdienten, staunte ich nicht schlecht, welche Summen manche Dösbaddel da bereit sind zu zahlen. Anlass war, dass zwei aufgedonnerte Frauen an mir und dem Security-Mann vorbei zu ihrem Auto gingen. Der Mann sagte, die könne ich kommen lassen, und ich sagte ihm, wie viel ich zahlen würde, woraufhin er erschüttert abwinkte. "Aber", sagte ich zu ihm, "die sehen doch überhaupt nicht besser aus als 'meine'." Woraufhin er sich auf den Standard-Irrglauben zarückzog, die billigen hätten Aids. Das aber wäre, wenn es überhaupt stimmte, eh nicht mein Problem, da ich schon immer Kondome verwende. Ich hatte in den knapp vierzig Jahren, seit ich geschlechtsreif bin, nicht eine Geschlechtskrankheit.    2) Es gibt keine Gewähr dafür, dass kostenloser Sex besser ist als köstlicher. Der Sex mit Professionellen war für mich, wie man aufgrund von deren Erfahrung erwarten kann, im Schnitt besser als der kostenlose Sex, der mir in einem halben Jahrhundert vergönnt war. In der Regel bekommen gewöhnliche Frauen einen Schrecken, wenn ich ihnen von meinen Erfahrungen berichte, weil sie fürchten, dass sie mich nicht befriedigen können. Sie wissen das also auch. In der Öffentlichkeit äußert sich dieser Frust der gewöhnlichen Frauen dann z. B. in Propaganda für den angeblichen Schutz von Huren, der in aller Regel von diesen selbst heftig abgelehnt wird. Tatsächlich wollen diese Frauenschützer den Huren schaden, weil sie Konkurrenz darstellen.
Etwas anderes ist die "Liebe". Wenn Sachs davon schreibt, geliebt zu haben und geliebt worden zu sein, dann stellt er das nicht in einen notwendigen Zusammenhang mit der (ausgelebten) Sexualität. Etwas von Liebe zu verstehen, ohne damit automatisch Sex zu verbinden, ist tatsächlich eine Freude. Sex unter Umständen zu betreiben, die dem Gegenüber seine Würde lassen, ist sogar eine Kunst. Wenn die Freude in eine Kunst übergehen will, entstehen die besten feuchte Orgasmen. Von Geld sind sie so wenig beeinflusst wie das Glück von Sacks. 
In vielen Gesellschaftssystemen, so auch in Thailand, stellt sich die Frage nach kostenlosem Sex im Grunde gar nicht. Kürzlich ging ich in eine Apotheke und verlangte für die Behandlung eines Bakeriums das vielfach billigere Antibiotikum statt dem Standardmedikament. Der junge studierte Apotheker, der mich bereits kannte, sagte lachend, in Thailand würde man Leute wie mich als "khii niau" (geizig) ansehen. Ich meinte, Sparen sei ein Talent. Woraufhin die PTA, die neben ihm saß, eine schöne Transsexuelle, die mich schon oft angelächelt hatte, das Gesicht verzog und fragte, ob ich denn wohl eine Freundin habe. Der Sinn der Frage war: Wie willst du denn eine Freundin bekommen, wenn du geizig bist - das heißt: nicht großzügig Geld dahingibst? Ich fragte sie ihrerseits, ob sie einen Freund habe, sie bejahte, ich machte das Geldzählzeichen zwischen den Fingern, und sie nickte. Ihr Typ hatte also Geld, und damit war alles für sie geregelt. Wären nicht Kunden in dieser Apotheke nachgerückt, ich hätte mir die Zeit genommen, ihr zu erklären, dass Männer wie ich nicht mit einer Frau zusammenleben, die auf Geld aus ist. Wir ficken mit solchen Frauen, so möglich, aber sie können sich aufgrund ihrer Käuflichkeit oder Geldgeilheit kein Recht erwerben, das Leben mit uns zu verbringen. Eine solche Vorstellung ist in vielen Ländern - und die PTA meinte, das müsse sogar in Deutschland so sein - völlig abwegig. Die Frauen verstehen größtenteils gar nicht, wovon da einer wie ich redet. Sie glauben, der Mann müsse sich das Recht erwerben, mit einer Frau (dauerhaft) zusammen zu sein, indem er (dauerhaft) Geld für sie ausgibt. Dies zieht sich durch die ganze Gesellschaft. In einer solchen Gesellschaft ist der Sprung in die Prostitution dann auch nur ein Hüpfer. Die Ehe und Partnerschaft ist ein Geschäft, und wer rechnen kann und GeschäftsMANN ist, wird sich kaum darauf einlassen. Ob das nun in euren Beziehungen auch so ist, liebe Leser dieses Blogs, möget ihr euch selbst fragen.
Ich lebe zwar nicht zölibatär wie Sacks, aber womöglich haben wir für unsere Entscheidungen ein ähnliches Motiv. Unsere relativ große Freiheit aufzugeben kommt nicht so einfach in Frage. Die Frau, die an unsere Seite passte, ist uns einfach nicht übern Weg gelaufen. Oder wir haben es nicht bemerkt. Für mich ist es ehrlicher, zu zahlen, als Frauen vollzulabern oder mir willige Dharma-Schülerinnen heranzuziehen und sie zu manipulieren, wie es etliche buddhistische Lehrer gezielt tun. Mir missfällt auch die diesbezügliche Auswahl.
   Es ist wirklich eine Frage des Alterns: Wie man sich daran gewöhnen kann und seine Freuden davon unabhängig genießt, das scheint mir "mit der Zeit" immer leichter zu werden. Nicht nur haben wir das Märchen durchschaut, dass da jemand sein müsse; wir haben aus der ernüchternden Erkenntnis des Gegenteils einen Vorteil ausgedehnterer Freiheit gemacht.
   Was nicht leichter wird ist hingegen, gute Freudenmädchen zu finden (nur die schlechten zu meiden wird einfacher). Insofern sollte ich mir womöglich ein Beispiel an Sacks nehmen und öfter mal schwimmen gehen.

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