Rückkehr nach Berlin – Die allerletzten Formalien

Meine erste Reise zurück in die Heimat erfolgt aus ziemlich formalem Grund. Meine Berliner Wohnung, so gut wie leergeräumt, muss zurück in die Hände der Wohnungsbaugesellschaft. Die gefürchtete Endabnahme steht vor der Tür. Obwohl alles soweit mit dem Nachmieter verabredet, der glücklicherweise gegen Küchenmöbel und nigelnagelneuen Media-Markt-Kühlschrank auch die komplette Renovierung übernimmt, fühle ich eine leichte Unsicherheit. Zumal mein letzter Aufenthalt jetzt bereits einige Wochen zurückliegt. Im Kühlschrank schmort noch allerlei Gemüse vor sich hin, das ich in der Eile vergaß, zu entsorgen. Vermutlich ist der Briefkasten auch übergequollen und böse Mahnungen verstopfen den Briefschlitz, beziehungsweise schlimmer noch, stapeln sich auf dem Küchentisch meines allzu neugierigen Nachbarn. Ich wünschte, ich hätte die ganzen Formalitäten noch vor meiner Abreise erledigen können. Denn die prompte Rückkehr nach der langen, dramatischen Reise samt Kätzchen und Engländer im Gepäck, die lange Fahrt mit Zug und Fähre, das von Pianomusik begleitete Auslaufen aus dem Hafen, das alles schien plötzlich wie weggewischt. Und nun steige ich in den Flieger und stehe einfach wieder mittendrin in der Vergangenheit.

Der Humor der englischen Bahn

Und so wird der Morgen meiner Rückkehr zur gefühlstechnischen Belastungsprobe. Hin- und hergerissen zwischen Heimweh nach Familie und Freunden und dem Wunsch in der Idylle meines neuen Zuhauses zu verweilen, raufe ich meine sieben Sachen zusammen, stopfe Flugtickets und ein kleines Butterbrot in meine Handtasche. Mein Engländer spielt DJ und begleitet meinen Aufbruch mit lauschiger Abschiedsmusik. John Denvers “I hate to go” schallt mir da allzu zynisch aus den PC-Lautsprechern entgegen. Dann wird es Zeit für das weiße Taschentuch und ich mache mich auf den Weg Richtung Bahnhof. In meiner Manteltasche klimpern fröhlich Pfundstücke umher.
Nachdem sich herrausgestellt hatte, dass ich aus welchen Gründen auch immer bei der National Rail keine elektronischen Tickets downloaden kann, hatte ich am Abend zuvor alles Bargeld zusammengerafft, dass ich in Taschen und Jacken auftreiben konnte (nur falls der Kartenautomat am Bahnhof ausfallen sollte, wieder mal eine meiner deutschen Besser-auf-alles-vorbereitet-sein-Attitüden). Witzigerweise stößt man auf diesen Mangel an elektronischem Entgegenkommen oder nennen wir es einfach schwarzen Humor der britischen Bahn erst, nachdem man haareraufend den gesamten Bestellvorgang durchlaufen hat, samt ziemlich unflexibler Verbindungssuche versteht sich. Da blinkt einem nach Klick auf den Bestätigungs-Button die fröhliche Frage entgegen:

“An welchem Bahnhof möchten sie ihre denn Tickets abholen?”

Hmm lasst mich kurz mal überlegen …

Natürlich könnte ich hier bequemerweise unseren Bahnhof per Auswahlmenü wählen, doch glücklicherweise fällt mir noch rechtzeitig ein, dass dort gar kein Schalter, geschweige denn Bahnhofspersonal existiert. Eigentlich wäre es ja witzig, mal herauszufinden, wie die zu Scherzen aufgelegte National Rail das Ganze am geschicktesten zu lösen versucht, wenn ich auf den Senden-Button gedrückt hätte. Möglicherweise hätten sie extra einen freundlichen Schaffner in blank poliertem Schuhwerk und astrein gebügelter Uniform am Eingang, unter der Brücke postiert oder aber die Tickets ganz klassisch in einem versiegelten Umschlag unter einen der losen Ziegelsteine gelegt, die die Bahnhofsmauer in regelmäßigen Abständen zierten. Wie auch immer, aufgrund der Kürze der Zeit schien mir dieser Weg dann doch etwas zu diffizil zu sein. Wutschnaubend breche ich also den Bestellvorgang wieder ab und kann mir einen kurzen Zornesausbruch nicht verkneifen, während ich das Kleingeld zusammenkrame und auf Biegen und Brechen gerade noch so 21 Pfund zusammenklauben kann, die nun eben in meiner Tasche klimpern.
Gut, weiter im Text. Am Bahnhof angelangt, bin ich natürlich eine geschlagene halbe Stunde zu früh da. Zeit genug, um den Fahrscheinautomaten zu studieren, der im Übrigen nur Kartenzahlung akzeptiert. Jetzt aber wird es wieder reichlich kompliziert, sodass ich ganz froh bin, dass ich genug Puffer eingeplant habe. Mein Anliegen gestaltet sich folgendermaßen: Ich möchte einen Fahrschein kaufen, der mich von Slaithwaite über Huddersfield nach Manchester Airport bringt. Bei National Rail habe ich zuvor online zumindest meinen Fahrplan ausdrucken können, der mir schwarz auf weiß bestätigte, dass mich eine Fahrt nach Huddersfield 1,60 Pfund für die Northern Rail und von Huddersfield mit dem Transpennine Express noch einmal 19,80 Pfund kosten würde, sodass ich am Ende einen Gesamtbetrag von schlappen 21,40 Pfund hinblättern müsste. Man muss erklärend hinzufügen, dass Huddersfield zwar etwa 8 Zugminuten in der entgegengesetzten Richtung liegt, ich mich also erstmal ein Stück vom Airport wieder entfernen würde, dann aber mit dem durchfahrenden Express eine gute Verbindung hätte. So weit, so gut. Nun gibt es aber eben auch eine Verbindung von Slaithwaite zum Flughafen, die gleich in die richtige Richtung führt, nur dass ich an unbekannten Stationen zwei Mal umsteigen müsste, wobei ich jedoch keinerlei Zeitersparnis hätte. Verwirrend, ich weiß. So, nun wähle ich also im Ticketautomaten Slaithwaite nach Manchester Airport.Eine Zwischenstation ist nicht anwählbar. Na gut, klick und … 19,80 Pfund spuckt der mir aus. Hä? Wenn ich diesen Fahrschein kaufe, dann ist darin vermutlich nicht die Fahrt nach Huddersfield enthalten, denn sonst wären es ja 1,60 Pfund mehr. Zur Vereinfachung habe ich hier mal eine einfache Skizze entworfen:

2015-01-22 21.32.31Ich kapier es selber nicht.

 

Da ich nun starke Befürchtungen hege, als Schwarzfahrer gegen Zahlung einer horrenden Gebühr kompromisslos aus dem Zug geworfen zu werden, um dann samt Gepäck durch die einsame Moorlandschaft Yorkshires zu irren, sichere ich mich doch noch mal ab und kaufe extra dazu noch einen Fahrschein nach Huddersfield. Auf dem ausgedruckten Ticket verunsichert mich zu allem Überfluss auch noch der folgende Satz:

“Für jede zulässige Strecke”

Na, das ist ja mal ne Auskunft!

Also entweder bin ich jetzt vollständig deutsche-bahn-geschädigt, verstehe keinen trockenen Humor oder die englische Fahrscheinverkaufsphilosophie ist ziemlich gerissen. Konfusion und eine ausgeprägte Informationsrarheit als Verkaufskonzept. Nicht schlecht. Als ich den Sachverhalt jedoch meinem Engländer schildere, erwidert der nur wenig gerührt:

“Yeah, I think a lot of people don`t pay.”

Ich vermute, das wäre auch denkbar.

Jedenfalls fühle ich mich mit meinem Extrafahrschein sicher (was für ein Angsthase ich bin, nicht wahr?), auch wenn ich einen kleinen Betrag hätte sparen können.

Bitte lächeln, Sie sind im Fernsehen!

Auf dem Huddersfielder Bahnhof begrüßt mich an diesem Sonntagnachmittag gähnende Leere. Niemand scheint an diesem lauschigen Wintertag, so kurz vor Tea Time, die trauten vier Wände verlassen zu wollen. Nach und nach finden sich doch noch ein paar Reiselustige ein. Dann fährt der Zug ein und ich wuchte meinen halbleeren Trolley ins mehr oder minder geräumige Großabteil. Ich lasse mich auf dem erstbesten Sitzplatz niedersinken, vor mir ein gemütliches Pärchen mit Bierchen auf dem Klapptisch. Links neben mir ein typischer Mancunian-Vertreter in punkig-alternativen Klamüsen. Kaum ist der Zug angefahren, versuche ich meine plattgedrückte Käse-Weißbrotstulle aus drei Lagen Küchenkrepp zu befreien und schmatze alles krümelnd in mich hinein. Dann erregt ein Schild an der Zugtür meine Aufmerksamkeit und ich muss mich schon sehr wundern:

“Smile, you are on CCTV!”, heißt es da ganz frech.

Wie bitte? Der Engländer, der aus hoch moralischen Datenschutzgründen den Besitz eines Personalausweises strikt ablehnt, ja uns Deutsche geradezu schockiert dafür bedauert, lässt sich protestlos videoüberwachen? Hmm scheint mir da was Entgangen zu sein? Einer Schätzung zufolge, so lese ich ein paar Tage später, soll es in ganz Großbritannien ja circa 5,9 Millionen solcher Closed Circuit Television Kameras geben, sogar in Krankenhäusern und Schulen. Großbritannien wehrt sich strikt gegen eine ID-Card, und macht einen auf Überwachungsstaat? Wie passt das denn jetzt zusammen? Fakt ist, dass es in England vor langer Zeit einmal Personalausweise gegeben hat. Sie dienten zwischen 1939 und 1950 zur Abwehr deutscher Spione. Nachdem ein Londoner Reinigungsmann sich jedoch weigerte, bei einer Routinekontrolle seine ID-Card ordnungsgemäß vorzuzeigen und die Angelegenheit juristisch aufgerollt werden musste, ließ Winston Churchill die lästigen Papiere kurzerhand abschaffen. Seitdem hat der Ausweis bei den Briten schlechte Karten, obwohl von der praktischen Seite her gesehen sicher einiges einfacher wäre. Die ganze Personalausweis-Datenschutzdebatte scheint auch gerade deshalb etwas umständlich zu sein, da man den Identitätsnachweis in England für gewöhnlich mit dem Vorzeigen von Telefon- oder Stromrechnungen vollzieht, wo man sich dann doch fragen muss, ob das nicht viel eher eine private Transparenzzone überschreitet. Also ich persönlich würde mich etwas unwohl fühlen, wenn ich dem neugierigen Möbelhausverkäufer in der IKEA-Küchenabteilung meine Telefonrechnung präsentiere. Der Kauf von Alkohol, der Zutritt zu Clubs oder Tattoostudios, all das wäre sicher einfacher mit Personalausweis. Nicht für die Mehrheit der Briten scheinbar. Doch wer ein solches Kärtchen besitzen möchte, der ist ja nicht ganz verloren, man findet durchaus Firmen im Netz, die einen solchen Service anbieten. Hier kann man für zum Beispiel gerade einmal 13,33 Pfund bequem seine Daten online hochladen und sich einen von Polizei und Behörden autorisierten Ausweis herunterladen. Und wo wir schon gleich beim Thema sind, ein Einwohnermeldeamt gibt es in England auch nicht und somit auch keine Meldepflicht. Wer hier wo wohnt ist im Prinzip eh ziemlich schnuppe. Auch an den Haustüren habe ich bisher noch keine Namen entdecken können. Man lebt vorzugsweise anonym, was aber eben auch dazu führt, dass wir auch noch nach Monaten die sensible Post von unserem Vormieter bekommen und der Stapel sich regelrecht auf der Küchentheke türmt.

Laurel und Hardy reloaded

Jetzt aber zurück zum Thema.
Ich fliege also noch mal zurück in die alte Heimat, um meine erst fünf Monate zuvor angemietete Traumwohnung im verabredeten Zustand zu übergeben. Das ganze Unterfangen fällt mir nicht leicht und ich bin traurig, denn hier habe ich immerhin Bedeutendes erlebt, auf Balkonien in der Sonne gebraten, tiefgründige weinhaltige Gespräche geführt, auf der Couch die Nächte um die Ohren geskypt, meine Reisen zur Insel geplant.
Es ist Donnerstag, der 15. Januar 2015, 10 Uhr. Nervös laufe ich in der leeren Wohnung umher. Meine Mama ist zur moralischen Unterstützung mit von der Partie. Endlich klingelt es, doch vor der Tür steht nicht der Hausmeister, sondern mein Nachmieter, der sich spontan zur Schlüsselübergabe selbst eingeladen hat. Und während der frisch getrennte Vater laut vor sich hinmurmelnd schon mal in Gedanken die Wohnung möbliert, wundere ich mich, wo die Hausverwaltung eigentlich steckt. Es ist jetzt 10 nach 10. Ist das schon übertrieben, wenn ich da mal langsam nachhake? Vermutlich steht der gute Facility Manager mit seinem Fahrrad im Stau oder ist in einen netten Plausch verwickelt mit dem gesprächigen Herrn aus der 3. Etage und kann sich nicht loseisen oder so. Die Uhr tickt weiter. 15 nach 10. Okay, ich will ja auch nicht ewig hier rumlungern, also Nummer gewählt und … Mailbox! Doch da vernehme ich plötzlich Rascheln und Schnaufen im Treppenhaus. Na endlich, das Blaumannkommando ist im Anmarsch. Und jetzt bereue ich wirklich, dass ich kein lebensechtes Foto von dem Dreamteam habe, das da fröhlich in meine ehemalige Bude stapft. Daher habe ich mal ein Porträt gewagt, das der Realität in gewisser Weise nahe kommt:

Laurel und Hardy auf BerlinerischLaurel und Hardy auf Berlinerisch

“Jetzt mal nicht ungeduldig werden junge Frau!Wir waren noch im Keller!”, schmunzelt mir der Längere entgegen, während sein pausbäckiger Kumpane noch ordentlich nach Luft schnappt. Irgendwie erinnern mich die beiden stark an Laurel und Hardy.

Dann geht es an die Nachkontrolle. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, wo der Hausmeister mit einem Stapel Durchpauspapier am Küchenfenster stand und ruck zuck alles mit Tinte abgehakt hat. Hat zwar ’n bisschen gedauert, aber war, wie sich gleich herausstellen sollte doch auch ’n bisschen effektiver. In der modernen Welt des elektronischen Datenverkehrs ist so eine antiquierte Vorgehensweise natürlich völlig überholt und absolut geschmacklos. Jetzt zückt das fröhliche Gespann den firmeneigenen Tablet-PC und tippt fröhlich drauf los. Das heißt, der Längere tippt und der Kürzere weiß alles besser.
Das Prozedere zieht sich in die Länge, vor allem dadurch, weil keiner der beiden so recht weiß, welcher Haken wo gesetzt, welches Feld, was beinhaltet. Mühsam arbeitet sich der Lange durch Dropdownmenüs und Formularfelder. Der Kleine kommentiert, reißt typische Arbeiterwitze und gluckst fröhlich vor sich hin.
Plötzlich traue ich meinen Augen nicht, da liegt der Rundliche plötzlich keuchend auf dem Badezimmerboden. Nein, keine Sorge, das ist kein Unfall, der liest den Wasserstand ab. Ich frage mich wirklich, ob die Arbeitsteilung zwischen den Beiden so sinnvoll verteilt ist, aber da kugelt sich der Bodenlägrige schon und steht wieder halbwegs gerade. “Alter!”, höre ich ihn die Situation mehrmals mit jugendlichem Esprit untermauern. “Nie hört der auf mich! Ist wirklich wahr!”, schluchzt er meiner Mama ins Angesicht, die beschwichtigend zwischen dem Pärchen vermittelt. Es geht wohl darum, dass der Lange sich ziemlich oft vertippt und der Kurze darüber etwas ungehalten ist oder so etwas in der Art. Nach einer Ewigkeit ist jeder Raum abgehakt.
“Haben wir schon ihre neue Adresse?”, fragt mich Laurel mit verschmitztem Maulwurfsblick.
Natürlich haben sie die, aber eh sich die Geschichte noch weiter verlängert, schnappe ich mir den Stift und tippe die Anschrift in das Gerät. Als Hardy einen Blick darauf wirft, wird es wieder amüsant:
“Hoppegarten! Dit liegt in England? Na dit is mir neu. Kiek mal, hast du det jewusst?”, scherzelt er seinem Kollegen zu. Der springt auf den Zug auf und kontert:
“Von wegen England. Hab ich dir eh nicht geglaubt! Du erzählst auch nur Märchen!”
“Sie ist noch bei mir gemeldet, man weiß ja nie”, wirft meine Mama mit wachem Verstand ein und lässt die Blase platzen.
“Ach so!”
Ich muss mich in den Flur verkriechen, denn ich kann mich wirklich nicht mehr halten vor Lachen. Als ich mich gerade wieder beruhigt habe, schallt es aus der Küche:

“Wat denn nu? Is ja alles weg jetzt!”, schimpft Laurel halb verzweifelt und tippt wild auf dem schniecken Tablet herum.
“Na, da haste jetzt Pech. Hättste nicht draufdrücken sollen. Hätt ich dir aber gleich sagen können”, klugscheißert sein Partner keck.
Während die beiden Komiker sich eifrig den Kopf zerbrechen, fühle ich die Sonne langsam hinterm Horizont verschwinden. Die nächste Stunde bricht an. Wie gesagt, Papier wäre Papier geblieben, es sei denn, der Wind reißt es mit aller Gewalt vom Fenstersims.
“Sie wollen los, wa?”, fragt mich Laurel mit besorgter Miene.
“Schon, ja”, erwidere ich irritiert.
“Nee, Sie können gehen. Wir sind hier durch. Sie kriegen alles zugeschickt“, versichert er mir höflich und wir verabschieden uns händedrückend von den lustigen Gesellen. “Na, die haben Spaß bei der Arbeit”, murmle ich beim Hinausgehen. “Na, viel zu tun haben sie ja nicht!”, kichert Mama mir entgegen.
Als die Tür hinter mir ins Schloss fällt, bin ich erleichtert und bedrückt zugleich, denn das war jetzt wirklich ein Abschied für immer und gewiss ist: Nun ist der längste und vielleicht abenteuerlichste Sommer meines Lebens endgültig vorbei.



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