Soylent Green ist Menschenfleisch. Oder doch nicht? Dass Hollywoodfilme mitunter deutlich von ihren literarischen Vorlagen abweichen, ist keine Seltenheit. Doch was steht denn nun wirklich drin in Harry Harrisons im New York des Jahres 1999 angesiedelten Dystopie? Wer dies herausfinden möchte, dem gibt der Manticore-Verlag die Gelegenheit dazu, denn dort wurde der Roman vor einiger Zeit unter dem Titel Solyent Green wiederveröffentlicht.
1999 ist die Bevölkerung des Planeten explodiert. Die 35 Millionen Einwohner von New York City bringen ihre Fernseher mit Pedalkraft zum Laufen, randalieren wegen Wasserknappheit, rauben Linsen-Steaks und werden mit Stacheldraht, der vom Himmel fällt, in Schach gehalten. Als ein Gangster während einer glühenden Hitzewelle in Manhattan ermordet wird, setzt man den Polizisten Andy Rusch unter Druck, das Verbrechen aufzuklären, der wiederum ist aber auch von der wunderschönen Freundin des Opfers fasziniert. Doch in den verrückten Straßen von New York City, vollgestopft mit Leuten, und in einer Welt, die den Bach hinuntergeht, ist es schwer, einen Killer zu fassen, geschweige denn das Mädchen zu bekommen. (Klappentext)
Zu Beginn eine kleine Runde Namensroulette: Das Licht der Öffentlichkeit erblickte Harry Harrisons ökologisch-soziale Dystopie 1966 in den USA unter dem Titel Make Room! Make Room! Als New York 1999 erschien sie drei Jahre später erstmals auch in deutscher Spräche. Der Leinwandadaption gab MGM 1973 den Namen Soylent Green, dem Verleih hierzulande gefiel hingegen...Jahr 2022...die überleben wollen besser. Die Neuübersetzung von Mantikore trägt also den Originaltitel der Verfilmung. Eine nachvollziehbare Wahl, denn von allen Titeln, mit denen diese Geschichte im Laufe der Zeit geschmückt wurde, ist dieser der griffigste und mit Abstand bekannteste.
Als Harrison seinen Roman schrieb, war das Bewusstsein dafür, welche katastrophalen Folgen Überbevölkerung, Umweltverschmutzung und die hemmungslose Ausbeutung der Rohstoffvorkommen für das Leben künftiger Generationen haben könnte, noch kaum ausgeprägt, denn es wurde überlagert von der allgegenwärtigen Angst vor einem Atomkrieg der Supermächte. Erst ab den 1970ern griff der Gedanke von der Notwendigkeit des Schutzes der Natur und des verantwortungsvollen Umgangs mit den Ressourcen der Erde in breiten Bevölkerungsschichten Raum. Harrison war also der Zeit voraus - und damit auch ein ziemlich einsamer Rufer. Die Zustände, die der Autor für die Welt und insbesondere für die USA an der Schwelle zum einundzwanzigsten Jahrhundert skizzierte, sind im Detail so nicht eingetreten, wie wir heute wissen. Doch schlichtweg überholt ist Soylent Green deshalb nicht, denn die Abhängigkeit vom Öl besteht unverändert, der Klimawandel schreitet voran, die Weltbevölkerung wächst stetig weiter. Trotz aller Fortschritte steht die Menschheit immer noch noch vor den gleichen Problemen wie jenen, die Harrison vor inzwischen 50 Jahren dazu veranlassten, seinen Roman zu schreiben. Ein beunruhigender Gedanke.
Die Zeit überdauert hat auch die düstere eindringliche Stimmung, die Soylent Green von der ersten Seite an durchdringt. Und zwar, weil Harrison kein abstruses Endzeitzeitszenario präsentiert, wie man es aus in Kiesgruben gedrehten C-Movies dutzendfach kennt, sondern das beklemmende wie extrem geerdete Bild einer Gesellschaft zeichnet, der es, abgesehen von Menschen, an allem mangelt: Lebensmittel und Wasser sind streng rationiert, Kleidung wird aufgetragen und improvisiert, Auto- und Schiffswracks diesen als Wohnraum, Schreibtafeln ersetzen Papier. Die Polizei verzichtet wegen Munitionsknappheit auf den Schusswaffengebrauch, und wenn man zu einem Großeinsatz ausrückt, wird ein alter Linienbus aus dem Museum geholt, dessen Seitenfenster mit Brettern vernagelt wurden, weil die Scheiben fehlen. Der technische Fortschritt ist zum Erliegen gekommen, die Menschheit verschleißt in einer unaufhaltbaren Abwärtsspirale das, was sie in einer früheren „goldenen Epoche" einmal geschaffen hat. Den allgegenwärtigen materiellen Verfall begleitet der intellektuelle: Der Alltag zwingt den Bewohnern New Yorks triebhaftes Verhalten auf, niemand plant mehr wirklich für seine Zukunft. Und wenn der Polizist Rusch es im Hinblick auf sein Leben mit Prostituierten Shirl versucht, scheitert er an dem Chaos, das zur Normalität geworden ist. Ruschs Suche nach dem Mörder des zwielichtigen O'Brien bildet die Klammer für Harrisons anti-utopische Schilderungen eines sich selbst verzehrenden New Yorks. Den Jäger und den Gejagten verschlägt es im Verlauf der Handlung unterschiedliche Stadtteile, was dem Autor die Gelegenheit gibt, detailliert die Zustände vor Ort zu beschreiben, sowie die Denkweise und das Verhalten der Bewohner. Schlussendlich findet die Mörderhatz ihr Ende, doch ein wirklicher Sieger lässt sich nicht ausmachen.
Beim Mantikore-Verlag ist Soylent Green als Softcover mit 312 Seiten im Format von ca. 20 x 13 cm (Höhe x Breite) erhältlich, dem ein eindrucksvolles Cover von Helge Balzer verpasst wurde. Für die Übersetzung zeichnen Verena Hacker und Michael K. Iwoleit verantwortlich; Letzterer auch für das Lektorat. Der Text offenbart im Hinblick auf das Korrekturat zwar bisweilen gewisse vermeidbare Schwächen, liest sich aber ansonsten insgesamt sehr schön flüssig und bedient sich vor allem einer angemessen nüchternen Wortwahl, die die Atmosphäre des Originaltextes gekonnt ins Deutsche überträgt.
Mantikores Neuübersetzung von Harrisons Make Room! Make Room! und die Adaption des Romans mögen sich zwar den gleichen Namen teilen, doch weichen Buch und Film inhaltlich massiv von einander ab: So spielt beispielsweise das Lebensmittel Soylent Green im Roman keine tragende Rolle, und der Aspekt des Kannibalismus wurde von Drehbuchautor Stanley R. Greenberg für die Verfilmung einfach hinzuerfunden. Änderungen, über die Harry Harrison zeitlebens unglücklich war. Gerade weil der Roman ganz andere Schwerpunkte setzt, macht ihn das für jene Science-Fiction-Fans attraktiv, die bislang glaubten, die Geschichte schon zu kennen, weil sie irgendwann einmal den Film gesehen hatten. Harrisons Warnung vor den Folgen der Überbevölkerung und des Raubbaus an den Schätzen der Erde ist auch heute noch eine packende Lektüre, und Soylent Green darum ein Klassiker, den man gelesen haben sollte.