Im italienischen Süden fühlen sich die Menschen nicht ohne Grund „von Rom“ vergessen. Besonders an der Ionischen Küste Kalabriens bestimmt eher Tristesse als Entwicklung das Bild, der Tourismus ist hier so rudimentär wie die Landflucht erheblich. Auf einem Hügel, verwunschen und weltabgelegen, liegt Riace, ein Ort, der dennoch bereits zwei Mal in den letzten Jahrzehnten von sich reden machte.
Seine magischen Momente empfing Riace übers Meer, während Verluste und Entmystifizierung eher auf dem Landweg vonstatten gehen.
Archäologen ist Riace ein Begriff, da hier 1972 vor der Küste des zugehörigen Riace Marina Hobbytaucher zwei mehr als lebensgroße griechische Bronzefiguren aus dem 5. Jahrhundert vor Christus fanden. Ihre Herkunft ebenso wie die Identität der so realistisch dargestellten Heroen sind bis heute ganz rätselhaft.
Riace, dem das Meer die sensationellen Bronzen zuspülte, war diese bald wieder los. Verbracht wurden sie ins als erdbebensicher geltende Archäologische Museum von Reggio di Calabria. Und es bestand im Anschluss kaum ein Grund, sich wegen ihnen nach Riace aufzumachen.
1998: Das humanitäre Wunder von Riace
Als ich im Juni 2015 in Kalabrien war, relativierte sich gerade die zweite magische Geschichte aus Riace, die 17 Jahre zuvor ihren Anfang nahm. 1998 waren über 200 Schiffbrüchige vor Riace gestrandet, kurdische Flüchtlinge. Und während es als europäische Regel galt, sich Flüchtlingen gegenüber abzuschotten, boten der linke Bürgermeister von Riace und die wenigen Einwohner, die es hier noch gab, den Menschen in Seenot ein neues Zuhause. Durch die Landflucht aus der infrastrukturell abgekapselten Gegend drohte Riace zum verlassenen Dorf zu werden. Bürgermeister Domenico Lucano verband einen intensiven humanitären Impuls mit einer logischen Idee, wie er schildert: „Dass ausgerechnet hier, an einem Ort, an dem einige Leute an eine soziale Utopie glauben, damals das Segelschiff strandete – ich weiß nicht: vielleicht war es so etwas wie eine Fügung. Jedenfalls ist mit der Strandung ein Experiment gestartet. Der Ort war damals dabei, ein Geisterort zu werden – heute ist es ein Ort der Begegnung. Ein Ort, in dem immer Leute kommen und gehen.“
Fortan widmete sich Lucano gemeinsam mit Mitstreiter(inne)n aus dem Dorf dem damals noch ganz außergewöhnlichen Projekt, Menschen in Not leerstehende Häuser zu bieten und Sprachkurse, vor allem aber Sicherheit und Freundlichkeit jenseits der Aufnahmelager – all dies organisatorisch gebündelt in einem Verein mit dem programmatischen Namen Città Futura. Ganz großes Aufsehen im europäischen Rahmen erregt das Engagement in Riace nicht, doch wer es zufällig entdeckte, war fasziniert. Allen voran Wim Wenders, der einen Kurzfilm über das Wunder von Riace drehte, einen Film, der vielleicht die Stimmung im Ort etwas zu idealisiert darstellt, der aber zweifelsfrei, selbst bei kaum vorhandenen Italienischkenntnissen, sehr berührt.
Riace 2015: Eine Ortsbesichtigung
So ist Riace mein Motiv und mein eigentliches Ziel als ich im Juni 2015 meine Fahrt zwischen den zwei Meeren antrete. Zuvor haben Felicitas und ich schon etwas frustriert den italienischen Medien entnommen, dass der Traum vom menschlichen Zusammenleben in Riace von der Realität dieser Tage zurechtgestutzt wird. Von der Realität der Bürokratie, die Menschen nach Schlüsseln verteilt – und bereits integrierte Flüchtlinge von Rom aus plötzlich in andere Kommunen „steuert“. Auch von der Realität, die Zuschüsse sofort einstellt, wenn die Papiere vollständig sind – und dann ist bei bestem Zusammenleben hier im strukturschwachen Kalabrien längst nicht mehr für jeden ein Auskommen. Plötzlich, im Jahr 2015, ist das ehemals sehr besondere Projekt nichts Besonderes mehr und soll es auch nicht mehr sein. Denn die Flüchtlinge kommen nun in großer Zahl, andere Gemeinden neiden Bürgermeister Lucano den erworbenen Ruhm, da sie jetzt tun müssen, was er aus freien Stücken tat. Was in Riace oft mit euphorischer Inbrunst verbunden war, wird zur pragmatischen Pflicht an anderen Orten. Doch die Straßen, die Wände und die Schilder in Riace erzählen noch von einer Überzeugung.
Wohin ziehen die Wolken? (Sie kennen keine Grenzen!)
Während ich vom menschenleeren Strandgebiet Riace Marina gemächlich durch eine traumhafte, aber weltabgelegene Landschaft die 8 Kilometer nach oben fahre, kommt mir auf der Straße ein Paar entgegen. Die Frau trägt ein großes Paket auf dem Kopf, der Mann einiges mit den Händen. Noch brennt die Sonne, beschwerlich das Leben in den Bergen!
Riace – Symbiose aus mittelalterlichem Ambiente und Zukunftsaufgaben
Der Dorfplatz von Riace empfängt mich mit internationalen Willkommensschildern zur Zeit der dösigen Rest-Siesta. Einige ältere italienische Männer sitzen im Straßencafé, wenige jüngere Männer nicht-italienischer Herkunft laufen durch die Gassen. Große Ruhe, nur die Kinder auf dem Spielplatz, auf dem sich alle Ursprungsnationalitäten mischen, sind zu hören und durchbrechen das Gefühl von Stillstand. Ich laufe durch den mittelalterlichen Ort und fühle mich durchaus als Eindringling. Denn ich bin mit Sicherheit gerade die einzige wirkliche Fremde hier. Mit Fotos von Menschen halte ich mich unbedingt zurück.
La speranza – Die Hoffnung
Ich kann nicht anders als die Atmosphäre des Ortes zu mögen, sehr sogar. Ohne meine positiven Vorstellungen hätte ich den umständlichen Weg nach Riace gar nicht genommen – doch auch ohne den Bonus, den der Ort schon hatte, wirkt er heimelig-schön. Befänden wir uns nicht etwas am Ende der Welt, sondern beispielsweise in Sardinien, könnte Riace mit seinen verwinkelten Gässchen, dem nostalgischen Charme und den herrlichen Aussichtspunkten ein touristisches Kleinod sein wie etwa Bosa bei Alghero. Ein touristisches Kleinod, mit einem Bekenntnis zur Völkerverständigung. Die Ausflugstouren finden den Weg hierher jedoch nicht – und ob die humanitären Hoffnungen nicht längst die einer bedrohten „Insel“ sind, bleibt zu sehen. Das richtige Leben im Falschen: Es wird wohl auch in Riace nicht dauerhaft möglich sein, leider.
Die Atmosphäre von Riace in Bildern