Rezension: Will Self – Regenschirm (Hoffmann & Campe, 2014)

Der britische Autor Will Self, der neulich den Tod des Romans verkündete, hat mit “Umbrella” bereits vor zwei Jahren eine Alternative zur populärsten literarischen Form vorgelegt. Der Autor und Übersetzer Gregor Hens hat dieses nur schwer zu erschliessende Werk, das für den Booker Prize nominiert war, nun meisterlich ins Deutsche übertragen. “Regenschirm” ist ein grosses modernistisches Experiment, ein fünfhundertseitiger Stream-of-Consciousness-Rausch, der aufgrund seiner Form zu begeistern vermag, an anderen Klippen aber gnadenlos scheitert.

regenschirm

Titel: Regenschirm
Autor: Will Self
Übersetzung: Gregor Hens
Verlag: Hoffmann und Campe
ISBN: 978-3-455-40462-3
Umfang: 496 Seiten, gebunden m. Schutzumschlag

Im Zentrum stehen die Geschichten von Audrey Death und Dr. Zack Busner, die sich 1971 in der psychiatrischen Klinik  Friern Barnet, wo die Einweisung einer Beerdigung gleichkommt, als alte Patientin und junger Arzt begegnen.  Busner ist irritiert ob des jahrzehntelangen Dämmerzustandes der Patientin Audrey, die bereits 1922 mit Diagnose verfrühte Demenz in die Klinik eingewiesen wurde. Schnell bemerkt er, dass sie und andere Bewohner mit ähnlichen Symptomen keinesfalls dement sind, sondern an der Europäischen Schlafkrankheit leiden, die im Windschatten der Spanischen Grippe Europa heimgesucht hat. Mittels des Arzneistoffes L-Dopa – in Anlehnung an die von Oliver Sacks beschriebenen tatsächlichen Erfahrungen mit solchen Patienten (“Awakenings”, 1973) – gelingt es Busner die Patienten, die bis dahin “einfach zur Kulisse” gehörten, für einen kurzen Moment aus ihrem komatösen Schlummer wieder ‘zum Leben zu erwecken’.

Die Geschichten der beiden Hauptfiguren werden ergänzt durch Erzählungen aus Audreys Kindheit und Jugend, ihrer Arbeit in einer Munitionsfabrik während der Kriegsjahre, die Geschichten ihrer Brüder Stanley und Albert, der die Munitionsfabrik führte, und Stücke aus Busners Leben, seine zerfallende Ehe und die Erinnerungen und Gefühle, die in ihm auf einem Gang durch das heutige London an die Erweckung der “Enzies”, wie die Patienten genannt wurden, hochkommen.

Diese verschiedenen, insgesamt ein knappes Jahrhundert umspannenden Erzählstränge erscheinen verflochten in einen einzigen fünfhundertseitigen Stream-of-Consciousness-Rausch, der ohne Kapitel und gar beinahe ohne Absätze auskommt. Zeiten und Perspektiven werden bisweilen abrupt – in Extremfällen gar innerhalb eines Satzes – gewechselt, so dass die Lektüre höchste Aufmerksamkeit erfordert. Er schreibe nicht für Leser, sagte Self 2012 in einem Interview, und fügte an, das sei die Definition eines seriösen Schriftstellers. Davon kann man halten, was man will, Fakt ist: tatsächlich erscheint “Regenschirm” zunächst als ein leserunfreundliches modernistisches Monstrum, das einen mit seinen Wortkaskaden geradezu erschlägt. Vom titelgebenden Zitat (“A brother is as easily forgotten as an umbrella”, aus Ulysses) bis zur Vorliebe für Lautmalereien und komplizierte Wörter weckt hier beinahe alles den Gedanken an James Joyce, in der deutschen Fassung auch an Arno Schmidt. Die Willkür der Perspektivenwechsel wird zusätzlich verstärkt durch (nur scheinbare?) typographische Zufälligkeiten, wobei die durchgehend vorhandenen plötzlichen Kursivsetzungen speziell irritieren. 

Während “Regenschirm” mit Sicherheit ein bemerkenswertes literarisches Experiment ist, das einige wichtige Themen behandelt, etwa den Umgang mit Patienten in psychiatrischen Kliniken oder die Lücken und Tücken bürokratischer Systeme, bleibt am Ende die Frage: ist das nun grosse Literatur oder schlicht die überbordende Spielerei eines Autors, der selbst – drastisch gesagt – ein Irrer ist? Will Selfs Ansichten und Sprache – ein Kommentator wählte die Formulierung “lexical masturbation” – sind in seiner Heimat nicht immer gern gesehen, werden entsprechend heftig debattiert. Dies gilt für seine journalistischen Arbeiten wie auch für seine Prosa. Steckt hinter den undurchdringlichen Sprachfluten dieses Autors schliesslich “the art of being difficult” - die Notwendigkeit komplizierte metaphysische Sachverhalte auch kompliziert auszudrücken – oder blosse Angeberei? Sind die Wortspiele, Worterfindungen, die Anlehnungen an die gesprochene Sprache, die kulturellen Versatzstücke von Shakespeare bis zu den Kinks essenzielle Teile eines grossen zigtausendteiligen Puzzles oder bloss beliebige Anhäufungen von Wissen und grossen Worten?

“Hin und wieder hörten sie es zischeln: Gossenkinder, Lausebengel, Schmuddelkinder – es kamen aber auch immer wieder welche, die flüsterten, Wennse erlauben, Ma’am, ich war in Lambeth und happmir die Schlange vorm Arbeitshaus angeguckt und ein Typ der drinn war hat gesagt wennich in Westen rüberenn und sein’ Leuten Bescheid sag krieg ich’n Zehner. Sam Death flüstert nur ungern. Einen Zehner!, brüllt er, einen Zehner fürne quatschende Nerfnsäge minnem Bauch voll Wassersuppe?”

Oft verliert sich Self in Nebensächlichkeiten, was durchaus gewollt ist, will er mit seiner narrativen Form doch angeblich näher an der Realität des menschlichen Bewusstseins sein. Alltägliche Aktionen machen einen (zu) grossen Teil des Werks aus, wobei der Autor in körperlichen Dingen ein ‘Talent’ für extrem geschmacklose Formulierungen und Vergleiche an den Tag legt. Dies kommt nicht von ungefähr, gedenkt man etwa seiner Nomination für den Bad Sex Award anno 2006, bleibt aber dennoch in gewissen Fällen sehr befremdend.

So ist es ein ambivalenter Gesamteindruck, der nach “Regenschirm” bleibt. Einerseits gelingt es Self bei aller Verschachtelung nachvollziehbare Figuren zu zeichnen, die einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, es gelingt ihm auch, die verschiedenen Standpunkt etwa zum Thema der Psychatrie geschickt in die Geschichte einzuflechten. Andererseits ist seine Sprache monströs und umständlich, die gewählte ‘bewusstseinsnahe’ Form zwar beeindruckend, aber auch sehr konfus und auf Dauer ermüdend.


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