Rezension: Christian Zehnder – Die Welt nach dem Kino (dtv, 2014)

“Die Welt nach dem Kino” ist der zweite Roman des Schweizer Autors und Literaturwissenschaftlers Christian Zehnder (*1983). In einer einfachen, flüchtigen Sprache erzählt er die Geschichte einer Dreiecksbeziehung, die nicht bestehen kann. Ein nobler Text über Liebe und Freundschaft, deren Flüchtigkeit und die Wunder des Zufalls.

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Titel: Die Welt nach dem Kino
Autor: Christian Zehnder
Verlag: dtv
ISBN: 978-3-423-26022-0
Umfang: 180 Seiten, Klappenbroschur

Am Anfang fliegt man – wie in einem weiten Kameraschwenk – auf einer langen Strasse aus der Stadt hinaus. Dort kommt ein knapp Dreissigjähriger aus einem Bürogebäude. Sein Name ist Lorenz: lange hat er als Platzanweiser und Ticketverkäufer in einem Kino gearbeitet, sass in seiner Kabine und beobachtete die Passanten auf der Strasse. Manchen (weiblichen) ging er nach, nur um festzustellen, dass sie schon keine blossen Passantinnen mehr waren, sondern an einem Treffpunkt, jemanden gefunden hatten.

Später war arbeitete er in einer Bibliothek für russische Literatur, versuchte Dostojewski zu entziffern. Schliesslich die Rückkehr in die Stadt, wo er Arbeit in einem Kopierladen findet. Er verliebt sich in die Lehrerin Iris, der er eines Tages - dies ist der zentrale Moment der Geschichte – das Tagebuch des Diplomaten Jonas schenkt, der es im Kopierladen drucken liess und von Lorenz, neugierig auf die Geheimnisse dieses mit “Moskau wird immer kleiner” betitelten Textes, um ein Exemplar bestohlen wurde.

Nach anfänglichen Zweifeln – “Stell dir vor, jemand findet dein Tagebuch und liest es!” – setzen sich die beiden Verliebten hin und lesen Jonas’ Aufzeichnungen aus Moskau. Er schreibt vom Leben und Arbeiten des Diplomaten und von seiner verunglückten Liebe zu Alina. Es sind düstere Aufzeichnungen, die sich mit Tod und Einsamkeit auseinandersetzen – und auch mit dem Prinzip des Zufalls, das Jonas zuwider ist:

“Ich würde es nicht aushalten, vom Zufall abhängig zu sein. Zum Glück wurde ich damals an dem Tag, als die Prüfung für das corps diplomatique stattfand, gerade noch rechtzeitig geweckt. In meinem Beruf – wenn es überhaupt ein Beruf ist, eher: professionelles Warten! – gibt es zum Glück nichts Zufälliges. Das einzige, was mich etwas angeht, ist die Form. Das empfinde ich als Privileg.”

Einige Zeit später begegnen sich Lorenz und Jonas, der den Mann aus dem Kopierladen wiedererkennt, auf der Strasse. Rein zufällig, möchte man sagen. Sie werden zu Freunden, Jonas lernt auch Iris kennen und als Dreiergespann verbringen sie die Tage – bis Jonas bei seinen Freunden zuhause die verlorene Kopie seines Tagebuchs entdeckt. Beziehungen gehen in die Brüche und aus Freunden und Liebenden werden wieder Passanten – ist mehr überhaupt jemals möglich?

Mit seiner einfachen, klaren Sprache und der flüchtigen Struktur, die vieles einfach nur passieren lässt, gelingt es Zehnder hervorragend, die grossen Themen des Romans in adäquater Form wiederzugeben. Er lässt drei im Grunde zutiefst einsame Menschen aufeinandertreffen, eine kurze Zeit miteinander verbringen, ehe er sie wieder der unverstandenen Welt überlässt. Kritische Stimmen werden dem Werk vielleicht seinen fahrigen Stil vorhalten, der es vermeidet, in die Tiefe zu gehen, Episoden und Charaktere detailreich auszuarbeiten: doch ist genau diese Form eben auch Ausdruck des flüchtigen menschlichen Daseins als Passanten in den Leben anderer, das der Text thematisiert.

“Jonas erklärte dann draussen auf dem Balkon, es sei für ihn ein und dasselbe, über die unscharfen Abendlichter der Stadt zu schauen oder das Vorübergehen einer Frau und in den Geräuschen der Strasse das Erklingen ihrer Stimme zu erleben. Denn beides führe zur Einsicht, dass man nichts verstehe.”

Ganz zum Schluss, im allerletzten Satz des Romans, erscheint da ein Licht: es “wird immer heller und heller.” Es ist das Licht der Hoffnung: einer Hoffnung auf Freundschaften, die stark genug sind, Krisen unbeschadet zu überstehen. Wie in einem Kino, das die Besucher auch nach einem brutalen Film friedlich verlassen.

Zehnder ist ein souveräner Erzähler, der auf knapp einhundertachtzig Seiten vieles zu erzählen hat, dabei aber keinesfalls überhastet vorgeht. Es gelingt ihm, verschiedene Perspektiven, Zeiten und Textformen (u.a. auch Tagebuch und Brief) nachvollziehbar miteinander zu kombinieren, so dass im Gesamten ein stimmiger Text entsteht, der in den richtigen Momenten Prisen von Hoffnung und Lebensfreude der omnipräsenten Grundstimmung von Einsamkeit und Weltverlorenheit beimischt.


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