|Rezension| "Vollendet" von Neal Shusterman


http://www.fischerverlage.de/verlage/fischer_sauerlaender http://www.amazon.de/Vollendet-Neal-Shusterman/dp/3737361665/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1389896270&sr=8-1&keywords=vollendet
Der zweite Bürgerkrieg, auch bekannt als "Heartland-Krieg", war ein langer, blutiger Konflikt um eine einzige Streitfrage.
Nach dem Heartland-Krieg tritt eine neue Verfassung in Kraft - die Charta des Lebens. Laut dieser ist das Leben von der Empfängnis bis zum dreizehnten Lebensjahr unantastbar, danach kann eine Familie ihr Kind zur Umwandlung freigeben. Bei der Umwandlung werden 99,44 Prozent des Körpers genutzt, um andere Leben zu retten - der Wandler, derjenige, der umgewandelt wird, lebt also weiterhin, nur in anderen Körpern. Der siebzehnjährige Connor, das Staatsmündel Risa und das religiöse Zehntopfer Lev sollen dieser Umwandlung unterzogen werden, schaffen es jedoch, zu fliehen. Immer auf der Flucht und ständig in Angst lebend, treffen sie schließlich - auf den unterschiedlichsten Wegen - auf andere entflohene Wandler, die darauf warten, dass sie achtzehn werden - denn mit der Volljährigkeit ist eine Umwandlung nicht mehr möglich. Doch sollte es zu einer Umwandlung kommen und jeder Teil des Körpers lebt weiter, nur in jemand anderem, lebt man dann oder ist man tot? Auf einer Reise um Leben und Tod, müssen Connor, Risa und Lev bald feststellen, dass es auf diese Frage viele Antworten gibt...
"Vollendet" präsentiert sich in kurzen, prägnanten Sätzen in der dritten Person Singular im Präsens und wirkt durch den allwissenden Erzähler und die vielen verschiedenen Perspektivenwechsel wie viele kleine Momentaufnahmen, die sich zu einem großen Bild zusammenfügen. Dabei ist das Buch gleichermaßen locker und eindringlich erzählt und gibt sich wie ein großer Actionfilm mit Vorausahnungen und verschiedenen Blickwinkeln. Das ist wohl einer der interessantesten Aspekte des Buches: die vielen Perspektiven, auch aus der Sichtweise vermeintlich unwichtiger Figuren, die aber irgendetwas Wichtiges zum Gesamtbild beitragen. Es ist ein großes Buchstabennetz, das Shusterman formvollendet und faszinierend zu einer schockierenden und gut erzählten, wenn auch sehr jugendlich und simpel gehaltenen, Geschichte verwebt und aus vielen kleinen Erzählfetzen schließlich eine zusammenhängende Handlung näht.
Sollten Bücher jemals die allseits verhassten "Parental Advisory" Aufkleber tragen, dann wäre wohl auch "Vollendet" davon betroffen, denn obwohl man es dem Buch erst nicht anmerkt: "Vollendet" kann auch anders. Ganz anders. Und wie anders und vielfältig es kann, hat es mir auf beeindruckenden vierhundertdreißig Seiten demonstriert und sich dabei immer wieder von anderen Seiten gezeigt - nicht nur im wahrsten Sinne des Wortes. "Vollendet" ist ein cooler Alleskönner, der unter den silberglänzenden Buchdeckeln nicht nur eine grausame Zukunftsvision schafft, sondern auch mit schockierenden Science Fiction Elementen, einer Liebesgeschichte, verschiedensten Freundschaften und allerlei philosophischen Anregungen lockt. Dabei ist das Grundmuster simpel wie bekannt, denn vollkommen neu erfindet Shusterman das Rad sicherlich nicht. Es ist aber ein Unterschied etwas aufzugreifen und zu demselben altbekannten Haufen Papier zusammenzuschustern oder etwas aufzugreifen und etwas ganz Eigenes und Originelles zu kreieren - Shusterman gehört definitiv zu der letzten Kategorie!
Neal Shusterman schafft in "Vollendet" eine subtile Spannung, die sich durch die erste Hälfte des Buches zieht, dann immer greifbarer wird und schließlich eskaliert. Man kann den Spannungsbogen förmlich sehen, so sehr spitzt sich die Geschichte zu und nimmt immer mehr an Fahrt auf. Was anfangs wie langatmiger Kram wirkt, wird schon bald auf eine sehr tiefgehende Art und Weise spannend, was Shusterman gerade durch die vielen Perspektiven gelingt, die ineinander übergreifen. Man hat viele Geschichten vor sich und jede einzelne davon weiß einfach so sehr zu überzeugen, dass man nach Kapitel Ende kaum Zeit hat der vorher erzählten Perspektive wirklich nachzutrauern, weil es sofort mit einer anderen spannenden Geschichte weitergeht. Shusterman hat ein Talent dafür, seine Figuren plastisch und interessant zu machen - interessant in dem Sinne, dass auch der Leser ein Interesse daran hat, wie die Protagonisten durchkommen. So hängt man ständig gebannt an den Seiten und hofft, dass nichts schlimmes geschieht, was einem das Herz herausreißen würde.

Schließlich sind die Figuren auch allesamt sympathisch - und wenn nicht sympathisch, dann zumindest charismatisch. Alle wirken eigenständig und sind durchweg detailliert und gut gezeichnet. Allen voran natürlich die drei Protagonisten Connor, Risa und Lev, wobei ich sagen muss, dass mir Connor am meisten ans Herz gewachsen ist. Alle drei Figuren machen verschiedenste und teilweise unglaubliche, aber glaubwürdige Entwicklungen durch, die der Geschichte immer wieder neues Leben einhauchen und einfach Spaß machen. Dabei glänzen nicht nur Hauptfiguren, sondern auch Nebencharaktere, die teilweise sogar fast noch interessantere Geschichten zu erzählen hatten - ja,
selbst der böseste Fiesling bekommt ein Gesicht, eine Vergangenheit. Ebenso wie die Figuren entwickelt sich auch die Geschichte und nimmt immer wieder interessanteste Wendungen, auch wenn es stellenweiser mal ein wenig ruhiger zu geht.
Neben all diesen Aspekten ist das Beste an diesem Buch aber nicht die überzeugenden Figuren oder die spannende und schockierende Story, sondern die Wichtigkeit und Aktualität, mit der sie erzählt wird. Shusterman behandelt die Themen Identität, Rechte und das eigene Ich auf einer sehr philosophischen und provokanten Art und Weise. Ständig fragt er nach dem Warum, hinterfragt alles und jeden und lässt seine Figuren über den Prozess der Umwandlung philosophieren. Das gibt dem Buch sehr viel Tiefe und bringt den Leser oft selbst dazu, nachzudenken. Die Mischung zwischen Spannung, Handlung, Figuren und Philosophie stimmt hier einfach und gibt der Geschichte das gewisse Etwas, die sicherlich im Folgeband noch weiter wachsen wird. Ich glaube sogar, dass da noch mehr Luft nach Oben ist, und bin deshalb sehr gespannt, was "Vollendet - Der Aufstand" zu bieten hat.
"Vollendet" ist nicht nur der Auftakt einer Trilogie, sondern auch ein Alleskönner. Geschickt vereint das Buch Science Fiction, Dystopie und Liebesgeschichte auf eine so natürliche Art und Weise, das man es ihm durchgängig abkauft. Dabei überzeugt die Geschichte auf jeder Ebene und hat eine Spannungskurve, die man stetig ansteigen fühlen kann. Trotz all des Lobs glaube ich, dass die Reihe noch viel mehr kann und das da noch viel mehr Luft nach oben ist, obwohl ich schon bei diesem Band so gut wie gar nichts finde, was ich kritisieren könnte. Sympathische und vor allen Dingen charismatische Figuren, ein interessanter und philosophisch diskutierter Plot und dazu all die liebevollen und gut ausgearbeiteten Details - das macht nicht nur Spaß, sondern ist im wahrsten Sinne des Wortes eine explosive Mischung...


Neal Shusterman, geboren 1962 in Brooklyn, schrieb seine ersten Geschichten bereits zu Schulzeiten. Er studierte in Kaliforniern Psychologie und Theaterwissenschaften, mittlerweile widmet er sich ganz dem Schreiben von Jugendbüchern und Drehbüchern für Fernsehserien und Spielfilme. Für "Vollendet" erhielt Neal Shusterman den Buxtehuder Bullen im Jahr 2013. [via Sauerländer]
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