|Rezension| "Verlieb dich nie in einen Vargas" von Sarah Ockler



 Das Gesetz der Wahrscheinlichkeit sieht vor, dass ein Mädchen mit drei älteren Schwestern wenigstens ein Paar süße Shorts erben sollte, die ihm tatsächlich passen.
Es ist der Sommer nach Jude Hernandez' Schulabschluss, doch anstatt mit ihren Freundinnen Theater zu spielen und in den Urlaub zu fahren, hat die Siebzehnjährige nur einen Gedanken: 'El Demonio' zu besiegen. So nennt zumindest ihr Vater seine Krankheit - eine besondere Form von Alzheimer - die ihn langsam verzehrt und immer wieder in unangenehme Situationen bringt. Doch Jude denkt gar nicht daran aufzugeben und engagiert einen Mechaniker, der, gemeinsam mit ihr und ihrem Vater, das eingerostete Motorrad aus den wilden Zeiten ihres Vaters wieder in Schuss bringen soll. Denn obwohl ihr Vater so vieles durcheinanderbringt und vergisst, kann er sich an jedes Detail seiner Maschine erinnern und scheint in der Arbeit aufzugehen. Doof nur, dass der süße Mechaniker mit den Grübchen kein Geringerer ist als Emilio Vargas - und die Vargas-Brüder sind eigentlich tabu, das zumindest haben sich Jude und ihre Schwestern geschworen...
Sarah Ocklers Schreibstil ist eine ganz merkwürdige Angelegenheit, die einen zuerst in das trügerische Becken lockerleichter und spritziger Worte schubst, um dann mit einer Mischung aus Jugendlichkeit und Tiefsinnigkeit zu überraschen. Denn auch wenn die ersten Worte sich verdächtig witzig und locker anhören, wird man hier schon bald eines Besseren belehrt - und das nicht nur in einer Hinsicht, den Ockler hat schreibtechnisch weit mehr auf dem Kasten, als es die ersten Worte erahnen lassen. Ihr Stil ergibt eine erfrischend angenehme Balance aus poetischen Worten wie "Die Sonne wob rosa-orangefarbene Gespinste in den Dämmerungshimmel..." (S.257) und lockeren Umschreibungen wie "Tatsächlich saßen sie im Schritt so eng, dass es eher wie ompf mpff mpff hrmm geklungen hätte, wenn sie hätten sprechen können" (S.5) und lässt sich lachend und weinend gleichermaßen genießen. Es ist sicherlich ein Qualitätsmerkmal für einen Schreibstil, wenn man vor lauter Post-Its, mit denen ich mir Zitate angestrichen habe, kaum noch das Buch erkennen kann.
Um es mit "el viejos" (Judes Vater) Worten zu sagen: Es gibt zwei Arten von Menschen. Die einen lesen dieses Buch und die anderen verpassen etwas. Ich empfehle definitiv von der Art Mensch zu sein, die dieses Buch liest, anderenfalls könnte einem eine ganz besondere Geschichte über das Loslassen und das Leben entgehen, die nicht nur völlig anders ist, als es Titel und Cover versprechen, sondern auch eine Geschichte der Marke "Wohlfühlbuch" ist, bei dem man das Gefühl hat selbst eine
der Hernandez-Schwestern zu sein und gegen "El Demonio" zu kämpfen. Diese besondere Mischung aus Familiendrama und ruhiger Liebesgeschichte, die ganz nebenbei auch Themen wie Selbstfindung und andere Problematiken des Erwachsenwerdens behandelt, hat mich völlig eingenommen, mir ein ums andere Mal das Herz verknotet, um mir dann doch wieder ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, denn "Ja, verflucht! Genau das macht das Leben aus!" (S. 107).
Doch es ist nicht nur diese Nähe am Leben und der Realität, die die Geschichte um Jude und ihr Leben derart herzerwärmend und lesenswert macht. Allen voran sind es die Figuren, die der Geschichte Leben einhauchen und in ihrer Eigenständigkeit den Eindruck machen, als würde man sie alle schon ewig kennen. Zugegeben anfangs ist man noch ein wenig skeptisch, als man Jude in knappen Shorts und mit großer Klappe kennenlernt, wirkt sie doch ein wenig oberflächlich, doch spätestens wenn man sie im Umgang mit ihrem Vater kennenlernt, dürften alle Sorgen vergessen sein. Schließlich warten wir doch alle ständig auf den weiblichen Hauptcharakter, der nicht auf den Mund gefallen ist und sich nicht alles sagen lässt. In Jude findet man nicht nur eine sympathische Heldin mit einigen Ecken und Kanten, sondern auch ein Mädchen, das ihr eigenes Ding durchzieht und im Laufe des Buches eine markante Entwicklung durchmacht. Neben ihr glänzt auch der vermeintliche Bad Boy Emilio, der seines Grübchenlächelns (das mir doch ein wenig zu oft betont wurde!) und der Narben (endlich mal kein äußerlich perfekter Typ!) wegen von mir erst als solcher identifiziert wurde, hinter dem aber deutlich mehr steckt, als man es erwartet hätte.
Im Mittelpunkt steht wider aller Erwartungen nicht die Liebesgeschichte, obwohl die einen großen Teil der Handlung einnimmt und definitiv nicht zu kurz kommt, sondern die Beziehung zwischen Jude und ihrem Vater und die Krankheit des Vaters. Durch seine Erkrankung an vorzeitigem Alzheimer kommen oft Situationen auf, die einem das Herz schwer werden lassen und nicht nur für Jude unangenehm sind. Auch ihr Vater ist eine durchweg sympathische Figur, die zwischenzeitlich zu merken scheint, was mit ihr geschieht. Die Entwicklung der Krankheit und der Umgang mit dieser wurde einfühlsam und emotional beschrieben, sodass man sich einige Tränen das ein oder andere Mal kaum verkneifen kann. Und dennoch schafft die Autorin es, die Grundstimmung relativ positiv und sommerlich zu halten - und das obwohl nicht nur die Alzheimererkrankung zum Problem wird, sondern auch andere Dinge Judes Leben auf den Kopf stellen: So geht es nebenbei auch um das Erwachsenwerden, das Loslassen, zerbrochene Freundschaften und darum eigenständig zu sich selbst zu finden. Negativ anzumerken es lediglich die Tatsache, dass Rosettes Rolle irgendwie einfach fallen gelassen wurde - war sie tatsächlich nur so sinnlos? Hier hätte ich mir mehr Erklärungen gewünscht!
Generell ist "Verlieb dich nie in einen Vargas" ein Beziehungsroman durch und durch. Jede Figurenbeziehung wird näher beleuchtet: Vater und Jude, Jude und ihre Schwestern, Jude und Emilio und Jude und ihre Freundinnen und das auf eine unaufdringliche und einfühlsame Art und Weise. Dabei fällt auf wie all diese Beziehungen gleichzeitig schön und schrecklich sein können und genau das Leben einfangen, wie man es kennt. Gerade die Verbindung zwischen Jude und Emilio wird sanft und ruhig beschrieben und verläuft dabei sehr langsam, aber dennoch schnell genug um realistisch zu sein. Emilio ist nicht der typische männliche Buchcharakter, für den man ihn zuerst hält und seine Art mit Problemen (und auch mit Judes Vater) umzugehen, berührt den Leser immer wieder. Dabei ist die Geschichte trotz des prekären Themas witzig und humorvoll geschrieben und hat mich öfters Mal zwischen einem schweren Herzen zum Lachen gebracht. Erfrischend sind dabei auch die kleinen Seitenhiebe auf altbekannte Fantasyliebesgeschichten, die Hernandezschwester Marie durch ihren Job öfters mal ins Geschehen bringt.
Die Worte "Verlieb dich nie in einen Ockler" wird man von mir niemals zu hören bekommen, denn trotz akuter Suchtgefahr und Taschentuchbedarf, rate ich unbedingt zu dieser Autorin, wenn man auf ruhige Sommerreads mit ernstem Unterton steht und auch mit traurigen Thematiken kein Problem hat. In diese tiefsinnige und gleichzeitig humorvolle Geschichte kann man sich nämlich eigentlich nur verlieben, denn sie lockt mit eigenständigen und dreidimensionalen Figuren, die allesamt sympathisch sind. Entgegen aller Erwartungen ist "Verlieb dich nie in einen Vargas" keine plumpe Lovestory für Zwischendurch, sondern durchaus ein Buch, an dem länger zu knabbern hat und das durch seine Ernsthaftigkeit und gleichzeitig seine herzerwärmende Lebensnähe zu begeistern weiß. Besonders schön ist die nähere Beleuchtung all der (familiären, freundschaftlichen und auch liebestechnischen) Beziehungen in dem Buch, die Wärme und dieses besondere Wohlfühlgefühl ausstrahlt. Von mir gibt es eine uneingeschränkte Leseempfehlung und einen riesengroßen Klacks Vorfreude auf weitere Bücher der Autorin.

Sarah Ockler lebt mit ihrem Mann in New York, und weil sie immer noch an den Spätfolgen ihrer turbulenten Teenagerjahre leidet, hat sie sich aufs Verfassen von Jugendbüchern spezialisiert. Ihre Romane wurden in der Presse gefeiert und haben zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u. a. ALA's Best Fiction for Young Adults. [via cbt]
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