Rezension: U2 – Songs of Innocence (2014)

Wie unschuldig U2 nach 36 Jahren Bandgeschichte tatsächlich noch sind, sei dahingestellt. Tatsache ist: Mit ihrem dreizehnten Studioalbum „Songs of Innocence“ erleben die vier Iren ihren mittlerweile dritten oder vierten Frühling. Das Album, das kostenfrei zum Download zur Verfügung steht, ist ein hervorragender Mix aus angriffigem Arenarock, berührenden Melodien und feinen, poetischen Texten.  Die ersten Eindrücke: 

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Kein unbeschriebenes Blatt mehr: U2, die dreizehnte.

In den Neunzigerjahren veröffentlichten U2 mit “Zooropa” (1993) und “Pop” (1997) zwei Alben, die zwar in den Charts erfolgreich waren, aber nicht bei allen Fans und Kritikern gut ankamen. Die Band hatte sich an Experimentelleres gewagt, Electronica, Industrial und andere von ihnen bisher nicht so stark ausgeschöpften Quellen in ihre Musik eingebaut. Bisweilen entstanden chaotische, konfuse Songs. Und dann? Kam “All That You Can’t Leave Behind” (2000), ein Set von elf Pop/Rock-Songs wie aus einem Guss, ein sofort zugängliches und doch abwechslungsreiches Werk. Das neue Album “Songs of Innocence” könnte nun eine ähnliche Funktion einnehmen: ein frischer Sommerregen nach einer Periode, die manch einer als dürr empfunden haben mag (namentlich “How To Dismantle An Atomic Bomb” (2004) und “No Line On The Horizon” (2009)).

Eröffnet wird das Album mit “The Miracle (Of Joey Ramone)”, dem Song, den die Band an der Präsentation der Apple Watch zum Besten gab. Produziert wurde dieser aggressive Rocksong von gleich drei der erfahrenen Produzenten, die an den Aufnahmen beteiligt waren: Brian “Danger Mouse” Burton (u.a. Black Keys), Paul Epworth (u.a. Adele, Coldplay) und Ryan Tedder (u.a. OneRepublic).  Entgegen der Redensart haben die vielen Köche hier den Brei aber nicht verdorben. Was nicht verwundert, sind sie doch immerhin alles Spitzenköche mit mindestens 15 Gault-Millau-Punkten.

Der zweite Track, “Every Breaking Wave”, setzt nicht mehr auf harte Riffs, sondern auf kraftvolle Melodien und Harmonien. Mit seinen hellen Keyboards, den Wechseln von laut und leise und Bonos Falsett im berauschenden Refrain klingt der Song wie ein Weckruf an die Mitgutmenschen von Coldplay: “Hey, Jungs, so geht gefühlvoller Stadionrock!”

Hat jemand Melodien gesagt? “California (There Is No End To Love)” hat im Refrain auch wieder eine besonders bezirzende anzubieten. Ausgestattet mit einer typischen lebensbejahenden Botschaft der Liebe, treibt die gewohnt perfekte Rhythmussektion Clayton/Mullen diesen Upbeat-Song voran, während The Edge sich zu einem Rocksolo hinreissen lässt.  Ein Highlight, das vom nicht weniger grandiosen, aber wesentlich ruhigeren, balladesken “Song For Someone” aufgefangen wird.  “There is a light – don’t let it go out” heisst es an einer Stelle im Refrain – die Quintessenz dessen, was U2 seit mehr als drei Jahrzehnten in unzähligen Songs vermitteln: Das Gute gibt es – es liegt in deiner Hand, es zu beschützen.

Fünf Songs durch, jeder ein Instant-Hit. Geht’s noch? Ja, und zwar weiter mit starken Songs “Iris (Hold Me Close)” ist eine rhythmisch präzise Powerballade. Zugegeben, dieses Unwort ist wenig schmeichelhaft und wird dem Song mit seinen berührenden Lyrics, die Bonos Mutter gewidmet sind, auch kaum gerecht. Mit “Volcano” driftet die Band wieder in rockige Gefilde ab, Bono darf ein wenig die Reste Angry Young Man in sich spazieren führen. Der markante Bassriff und die schrammelnden Gitarren gemahnen gar  an die frühen U2, an die Rebellen, die Ende der 1970er die Musikwelt aufzumischen begannen.

“Raised By Wolves”, kommt düsterer daher, ein lyrisches Meisterwerk mit konkret politischer Thematik: den IRA-Sprengstoffanschlägen. Musikalisch bietet der Song The Edge eine Plattform für seine typischen perlenden Gitarrenklängen. Im folgenden Track “Cedarwood Road”, benannt nach der Dubliner Strasse, in der Bono aufgewachsen ist, gibt es dicke, fast metal-artige Riffs auf die Ohren, die sich mit sanft-sommerlichen Gesangsparts abwechseln. Nennt man das schon Progressive Rock? Oder einfach Open-Air-Musik?

Auf jeden Fall progressiv, fast triphop-ähnlich, zu nennen ist “Sleep Like A Baby Tonight”, ein dunkler Sermon mit süssen Lullaby-Melodien, die aber von verzerrten Gitarrenklängen durchbrochen werden, zu denen bestimmt kein Kleinkind seinen Schlaf fände. Was fehlt uns noch? Ah ja, der Blues und der Gospel. Auftritt “This Is Where You Can Reach Me Now”. Obwohl nur je mit einer Prise der genannten Genres infiziert, ist der Titel mit seinem mehrstimmigen, hymnischen Refrain doch ein packender vorletzter – ich werd gleich nostalgisch – Song, auf dem Clayton/Mullen einmal mehr in Hochform sind.

Der Ausklang wurde auf den Namen “The Troubles” getauft, der manch einen Englischlehrer zu Klugscheissereien verleiten könnte. Was aber zählt ist nur eines, nämlich dieser wunderschöne Song: Der Himmel hängt voller weinender Geigen, während Bono zusammen mit Lykke Li im Duett singt. Das ist die hohe Kunst der Melancholie – und ein perfekter Abschluss für dieses – wage ich es zu sagen? Ich wage. – perfekte Album.

Mit “Songs of Innocence” haben sich U2 nicht nur ökonomisch grosszügig gezeigt, indem sie das Album als Gratis-Download zur Verfügung stellten. Nein, sie zeigen sich auch musikalisch grosszügig, mit elf Songs, die für jeden Geschmack etwas Gefreutes beinhalten dürften. Elf Songs, von denen nicht ein einziger als schwach abfällt; elf Songs von einer Band, die seit 14 Jahren nicht mehr so aufgeblüht ist; elf Songs, routiniert und frisch zugleich, von einer Band, die im sechsunddreissigsten Jahr ihrer Karriere noch einmal ein Album herausbringt, das ihren hoch gepriesenen frühen Meisterwerken in nichts nachsteht. 

Hier ist noch einmal der Link zum Gratis-Download via iTunes. Frei nach einer Zeile aus “Every Breaking Wave”: ‘Are you ready to be swept off your feet?’ – Haut rein!


Tagged: Bono, California, Every Breaking Wave, Irland, Rezension, Songs of Innocence, The Edge, The Miracle (Of Joey Ramone), U2

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