Rezension: Svenja Leiber – Das letzte Land (Suhrkamp 2014)

In ihrem ambitionierten zweiten Roman erzählt Svenja Leiber (*1975) die mehr als sechs Jahrzehnte umspannende Geschichte des musikalisch begabten Stellmachersohns Ruven Preuk, der auszog die Welt das Geigen zu lehren, dem aber seine Herkunft, die Liebe und der Krieg dazwischen kamen. Ein grosser Roman über Familie, Liebe, Kunst und Gerechtigkeit im Angesicht der Unbarmherzigkeit der Geschichte.

leiber

Titel: Das letzte Land
Autorin: Svenja Leiber
Verlag: Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-42414-8
Umfang: 308 Seiten, gebunden m. Schutzumschlag

Im Jahr 1911, in dem die Geschichte einsetzt, ist Ruven Preuk, zweiter Sohn des Stellmachers Nils Preuk, noch nicht einmal zehn Jahre alt. Er steht “abseits vom Dorf und horcht. Er zählt den Takt, den das Licht und die Pappeln ihm schlagen.” Fahrende Künstler ziehen durch das Dorf in Norddeutschland: das Mädchen Sophie weckt im jungen Ruven erste erotische Leidenschaften, der ältere Joseph schenkt ihm seine erste Geige. Das Instrument, das sein weiteres Schicksal bestimmen wird.

Vater Nils prügelt den Sohn, weil er im familiären Betrieb nicht zu gebrauchen ist. Schliesslich darf Ruven doch Unterricht nehmen: mit neun Jahren geht er in die Stadt zu Lehrer Goldbaum, in dessen Tochter Rahel er sich unsterblich verliebt: eine lebenslange unerfüllte Liebe, die nie im Zentrum der Geschichte steht, und doch im Hintergrund vieler Episoden dräut.

Die Zeiten ändern sich: Ruvens Vater und Brüder ziehen in den Krieg und der Zweitgeborene ist gezwungen ins Dorf zurückzukehren und die Stellmacherei zu führen. Nils kehrt von der Front nicht zurück, der ältere Bruder John ist für immer gezeichnet vom Krieg. Nach dem Krieg stirbt auch Goldbaum und Rahel verschwindet. Ruven sitzt daheim und denkt, “wenn die Musik vorbei ist, bin ich vielleicht auch vorbei.”  Er geigt, hat Auftritte, wird unter die Fittiche eines Professors genommen. Im Dorf trifft er sich mit der Krankenschwester Emma, deren sozialistische Ideen auf tödlichen Widerstand stossen. Der nächste Weltkrieg naht. Bekannte Gesichter aus der Kindheit nehmen neue Formen an: Ruven heiratet die Kindheitsfreundin Lene und muss zusehen, wie aus dem Kindheitsfreund Fritz, dem “Fischotter”, ein Nazi wird.

Mit seiner Frau zieht er nach Hamburg, Tragödien häufen sich, er wird in die Armee eingezogen: “Ich kann das nicht mehr, das Frohsein”, seufzt er und geht. Der Fokus der Geschichte verschiebt sich ab diesem Punkt, liegt nun nicht mehr auf Ruven selbst, sondern unter anderem auf seiner zurückgelassenen Frau Lene, der gemeinsamen Tochter Maria, dem Judenjäger Fischotter-Fritz und seinen sadistischen Machtspielen. Bis ins Jahr 1975 wird die Geschichte gespannt, als alte Männer stehen sich die zwei Kindheitsfreunde wieder gegenüber und Ruven resümiert:

“Mir sagte einmal einer, die Welt sei krank. Damals hab ich das nicht verstanden. Aber jetzt verstehe ich. Sie ist an den Trümpfen krank geworden, an den grossen Versprechen. Am Kreuzbuben. Der kleine Mensch, der die grossen Antworten zu verkraften meinte, hat sich verloren und nicht mehr gewusst, was er auf der Welt überhaupt soll.”

“Das letzte Land” ist ein ambitionierter Roman, der in derbem, bisweilen dialektal gefärbtem Präsens vom Unbill der Geschichte erzählt, die manch einen grossen Traum in ihren Mühlen zu grauem Staub zermahlt. Die Figur des Ruven Preuk, hin und hergerissen zwischen rustikaler Herkunft und noblen Salons, im steten Kampf mit dem Schicksal, der Gerechtigkeit und dem eigenen Talent, ist vielschichtig und nachvollziehbar gezeichnet. Auch die weiteren Figuren, deren Geschichten bisweilen zu Hauptschauplätzen werden, strampeln sich ab in den Fluten des Weltgeschehens. Und manchmal sagt jemand im Angesicht des Schlimmsten mutige Worte wie:

“Und wissen Sie, Lene, wir können Dinge lassen (…), wir können sie aber auch tun. Denn wenn wir sie lassen, dann sind wir keine richtigen Menschen. Und richtige Menschen wollen wir doch sein, Sie und ich.”

Es passt zur Unbarmherzigkeit des Lebens, wie es in diesem Roman bis zum bitteren Ende beschrieben wird, dass das Schicksal der Person, die solche Worte spricht, keine Geschenke macht.

Trotz seiner unerhörten Ambition, mehr als sechs Dekaden auf dreihundert Seiten zu packen, übernimmt sich “Das letzte Land” niemals. Entscheidende Ereignisse der Geschichte spiegeln sich in den Biographien der Figuren, zeichnen deren Gegenwart und Zukunft, lassen sich, gerade im Fall der beiden Weltkriege, nicht mehr abschütteln. Leiber schreibt in einer kräftigen Prosa gegen die Hilflosigkeit ihrer Figuren im Angesicht des Schicksals und der Geschichte an. Dialektale Färbungen, die tabuisierte Sprache der naiv-abergläubischen Landbevölkerung, kraftvolle Metaphern und oftmals sprichwortartige Formulierungen sorgen für eine sprachliche Wucht, der man sich nur schwer entziehen kann.
Und am Schluss hallt eine Frage der Krankenschwester Emma, die allzu früh den Nationalsozialisten zum Opfer fiel, nach: “Wie wäre es, wenn alles ein wenig anders zuginge, gerechter?”


Artverwandte: Die derbe Sprache, die stark an mündliches Erzählen angelehnt ist, diese naiv-abergläubische Brutalität der Landbevölkerung und die Unbarmherzigkeit des Lebens, wie sie in “Das letzte Land” dargestellt wird, erinnern stark an Silvia Tschuis “Jakobs Ross” (Nagel & Kimche 2014). Obschon Tschuis Debüt wesentlich stärkere Einflüsse des Dialekts aufweist und einige Jahre früher (Deutschschweiz des 19. Jahrhunderts) spielt, sind die Parallelen kaum zu überlesen. Wem “Das letzte Land” gefällt, dem dürfte auch “Jakobs Ross” zusagen, und vice versa.

In einem grundlegenden Element der Erzählsituation erinnert das Buch auch an einen weiteren Titel aus dem aktuellen Programm des Suhrkamp-Verlags: die Beschreibung des ganzen Lebens eines Mannes, dem die Musik wie als eine Bürde des Schicksals auferlegt ist, gemahnt an die Geschichte von Joao Ricardo Pedros “Wohin der Wind uns weht”, welchem es jedoch nicht gelingt die verschiedenen Generationen und Geschichten so stringent zu einem Ganzen zu verweben.


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