Nach einem Interview folgt nun die Rezension zum Buch Suicide — Drei Monate und ein Tag. Darin widmet sich Stefan Lange dem Thema Selbstmord bei Männern — ein Thema, das der Autor als Tabu unserer Gesellschaft versteht. Aber stimmt das auch?
Eine Frau fürs Seelenheil
Es ist ein schöner Sommer in Sevilla — das goldene Licht der Abendsonne taucht die Altstadt mit Überresten maurischer Besatzung in ein mystisches Orange. Ein junger Mann aus Deutschland, unsicher über seine Zukunft, ist auf der Suche. Wonach, das weiß er selbst nicht so genau.
Und da läuft sie ihm über den Weg: Eine Frau, auf die er all seine Vorstellungen von Geborgenheit und Liebe projiziert. Sie ergreift von ihm Besitz, ohne es zu ahnen. Doch dann verschwindet sie wieder in ihr altes Leben. Zurück bleibt ein Verlassener, der fest davon überzeugt ist, Glück nur in Verbindung mit ihr zu finden.
Das Tabu aussprechen
Der junge Mann rutscht immer weiter in die Abwärtsspirale: Selbstmitleid, depressive Schübe, Abhängigkeit von Medikamenten. Doch eine Therapie ist für ihn zu diesem Zeitpunkt undenkbar. Also wählt er den Freitod, dessen Versuch er jedoch überlebt.
Langes Sicht verliert nicht die Bodenhaftung. Der Leser folgt den Gedankengängen eines Betroffenen, der zu keiner Zeit versucht, zu belehren. Wie in einem Tagebuch skizziert der Autor die einzelnen Schritte in den Abgrund, zunächst harmlos und banal, doch die dramatische Zuspitzung ist unausweichlich.
Manch einem mag dieser Stil nicht gefallen und zugegeben, anfangs springt das Buch zwischen den Zeiten hin und her. Doch nach einigen Kapiteln wird es stringenter und die Ereignisse chronologisch.
Suizid in der Gesellschaft
Stefan Lange möchte nach eigener Aussage enttabuisieren. Doch wo genau ist das Tabu? Schließlich wird seit Jahren in großen Zeitungen über Suizide in ganzen Dossiers berichtet, werden Experten in Talkshows geladen, gibt es Kampagnen zur Aufklärung. Warum also von einem Tabu sprechen?
Weil es sich bei diesem Thema um ein subtiles Tabu handelt. Zwar berichten Medien vielfach über Suizidfälle — doch meist nur aus einer externen, distanzierten Perspektive. Sicher, die Rezeption ist gewaltig, wenn man die bekannten Fälle betrachtet.
Allerdings verkommt die Berichterstattung bisweilen zu einem perfiden Rätsel-Bingo um mögliche Auslöser, die Rolle des Umfeldes und der Vergangenheit des Selbstmörders. Da werden dann auch Anstandsregeln über Bord geworfen und Kameras frontal auf trauernde Angehörige gehalten.
Suche nach Hilfe
Betroffene suchen Hilfe. Mehr und mehr Menschen nehmen Psychotherapien in Anspruch, Krankenkassen unterstützen diese Behandlung. Wie dringend konkrete Maßnahmen sind, wird angesichts der erschreckenden Zahlen deutlich: In Deutschland sterben schätzungsweise so viele Menschen durch Suizid, wie durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten, AIDS und illegalen Drogenkonsum zusammengenommen.
Die Verdrängung ist nicht nur ein privates, sondern ein internationales Problem. Die WHO hat im vergangenen Jahr erstmals einen Präventions-Bericht veröffentlicht, der das Ziel klar macht: Bis 2020 soll die Suizidrate weltweit um 10 % gesenkt werden.
Experten schätzen die Dunkelziffer aller Suizide um 25 % höher ein. Rund 3/4 der Suizide weltweit werden durch Männer verübt. Doch das sind Statistiken und Statistiken sind nicht die Absicht von Stefan Lange — er möchte mit seinem intrinsischen Blick aufwecken.
Kapital schlagen?
Sicher wird der Autor nicht nur auf positive Resonanzen stoßen, was einerseits an der heiklen Emotionalität des Themas, andererseits an dem wenig durchdachten Vorwurf liegt, Kapital aus der eigenen Biographie schlagen zu wollen. Hier macht sich aber der eigentliche Tabubruch bemerkbar — Lange schreibt als Mann über dieses Thema und sticht damit hervor.
Denn so fortschrittlich unsere Gesellschaft sich in ihrem Denken auch wähnt, die alten Rollenbilder, Klischees und Sexismen sind längst noch nicht abgeschafft.
Gleichwohl übernehmen viele Männer, ob bewusst oder unbewusst, die Rolle des kontrollierten, kühlen Machers, für den Gefühle nicht mehr sind als ein diffuses Hintergrundrauschen, dominiert von einem rationalen, überlegenen Verstand. Diesen explosiven Cocktail von konservativen Rollenbildern und der mehr oder weniger bewussten Anpassung gilt es durch offenen Diskurs zu entschärfen.
Fazit
Auch wenn der Titel anderes vermuten lässt: Stefan Lange hat mit Suicide kein reißerisches, sondern ein sensibles, ehrliches und verletzlich offenes Buch über ein “unbequemes” Thema geschrieben. Dabei verzichtet er auf belehrende Tonalität und liefert stattdessen einen beklemmend nachvollziehbaren Eindruck einer seelischen Talfahrt.
LANGE, STEFAN: Suicide. Drei Monate und ein Tag. Roman. Books on Demand 2014. 300 S., 12,90 €.