|Rezension| "Rot wie das Meer" von Maggie Stiefvater


Heute ist der erste November und das bedeutet, heute wird jemand sterben.
Jedes Jahr im Oktober, wenn die See störrischer den je ist und der Herbst die Blätter goldrot färbt, steigen die Capaill Uisce aus dem trügerischen Meerwasser. Die gefährlichen Wasserpferde sind seit jeher Teil der kleinen Insel Thisby und gerade im Herbst stehen sie im Mittelpunkt der Inselbewohner, denn obwohl sie die Pferde gleichzeitig lieben und hassen, findet jedes Jahr am ersten November das Skorpio-Rennen statt. Zu diesem Zweck gilt es, sich eines der Wasserpferde zu fangen und sie zwei Wochen lang auf das Rennen vorzubereiten, welches schon vorher oftmals blutig und tödlich endet. Sean Kendrick ist vierfacher Gewinner des Rennens und das Gesprächsthema Nr. 1 auf Thisby, denn niemand kennt die Pferde besser als Sean. Auch dieses Mal ist er der Favorit des Rennens, doch keiner weiß, dass in diesem Jahr so viel mehr auf dem Spiel steht, denn auch Puck Connolly, die ihre Eltern an die Wasserpferde verloren hat, muss gewinnen, um das Haus ihrer Eltern behalten zu können. Während der Vorbereitungen kommen die beiden sich näher und müssen feststellen, dass sie beide gewinnen müssen, um das zu bekommen, was sie brauchen.
Maggie Stiefvater ist mit Stift und Papier auf die Welt gekommen. Zumindest klingt es so, wenn man ihre Geschichten liest und ihnen reihenweise verfällt. Das größte Merkmal ihrer Schreiberskunst ist wohl  die malerische Poesie, mit der sie uns in ihre Welt entführt und dabei ein solche ungewöhnliche Leichtigkeit an den Tag legt, als würden ihr die Worte aus dem Mund rieseln, geradewegs auf ein Blatt Papier und sich dort ganz einfach zu Sätzen zusammentun. Mit ihren Worten erschafft sie eine ganz besonders schöne Atmosphäre, die sich der Geschichte wie ein Mantel überlegt: Rau wie die Inselbewohner, schön wie die Natur und eben "rot wie das Meer". Für jeden Moment scheint sie die passenden Formeln zu kennen und jedes Wort klingt so natürlich, als gäbe es keinen Zweifel daran, dass es genau dort hingehört. Mit den glaubwürdigen Dialogen, den tiefgründigen und poetischen Gedankengängen und den bildhaften Beschreibungen fällt es dem Leser auf jeden Fall mehr als leicht, sich die tosende See und die schreienden Capaill Uisce vorzustellen.
Es gibt nichts, dass eine derartige Faszination auslöst, wie die tosende See. Sie ist vermutlich das größte, gefährlichste und unbekannteste Raubtier der Welt, denn sie raubt so viele Leben und ist dabei so schön und anmutig, wie es nur eine Raubkatze bei der Jagd sein kann. Gleichzeitig wissen wir über nichts so wenig, wie über die Tiefsee und so ranken sich unzählige Legenden um das Meer. In jeder Kultur bekommen sie andere Namen, sind unterschiedlich und letztendlich doch so ähnlich. Eine dieser Sagen ist die, der Wasserpferde (auch Kelpies genannt) und aus diesen hat Maggie Stiefvater sich in ihrem neuesten Roman ein paar Details herausgepickt und nach dem jahrelangen Willen endlich ein Buch über diese Kreaturen zu schreiben, "Rot wie das Meer" herausgebracht. Eine Geschichte, die frischen Wind mit sich bringt und Vampire, Wölfe und Engel ganz eindeutig von ihrem Thron fegt.
Die schönsten und berührendsten Geschichten sind letztendlich diejenigen, die so wahr klingen, als hätte man sie selbst erleben können oder als wären sie einfach nur von irgendjemanden bis hierher überbracht worden. Genau das ist die größte Besonderheit an "Rot wie das Meer", denn neben dem schönen Schreibstil vermittelt die Geschichte das Gefühl der Wahrheit wie kein Zweites. Plötzlich bist du nicht mehr in deinem Zimmer, sondern befindest dich auf einer Klippe am Meer, Thisby wird real, die Capaill Uisce scheint es wirklich zu geben. Stiefvater hat die Materie derart unauffällig, aber auch gleichzeitig so präsent in die Geschichte eingewebt, dass es beinahe schon natürlich wirkt, dass es jene Kreaturen wirklich gibt. Zumindest zweifelt man während des Lesens in keinem Moment ihre Anwesenheit an und genau das hat das Buch für mich so lesenswert und berührend gemacht.
Hinzu kommen natürlich die Charaktere, allen voran Puck alias Kate Connolly und Sean Kendrick, aus deren Sicht das Buch abwechselnd geschrieben ist. Beide haben kein einfaches Leben und sicherlich keine leichte Vergangenheit hinter sich, dennoch leben sie im Hier und Jetzt und kämpfen für ihre Wünsche und Träume. Sie beide sind sehr starke Persönlichkeiten, die im Laufe der Geschichte zueinander und zu sich selbst finden. Außerdem empfand ich beide Figuren als sehr eigenständig, glaubwürdig und realitätsnah, auch hier spürt man die Natürlich- und Selbstverständlichkeit abermals, die dafür sorgt, dass Puck und Sean dreidimensional vor einem stehen könnten und man sich darüber absolut nicht wundern würde. Drumherum gibt es so einige Nebenfiguren, die das Bild der rauen Insel für mich perfekt machten und ein teilweise familiäres Gefühl auslösten. Auch der ein oder andere Bösewicht lässt sich hier finden und selbst dieser handelt glaubwürdig.
Ich denke, was vielen bei dieser Geschichte abgehen könnte, ist die Action, denn obwohl das Buch sich zum Ende hin aufbäumt und steigt, wie eines der Wasserpferde, spricht sie zum Großteil doch eher leise Töne, die es aber in sich haben. Der Großteil des Buches hat erstmal nur mit der Vorbereitung auf das Rennen zu tun und die Abgründe, die sich Sean und Puck auftun müssen sich vorerst entwickeln. So findet man einen sehr guten Einstieg in die Gefühls- und Gedankenwelt der einzelnen Figuren und lernt ihre Beweggründe und tiefsten Sehnsüchte sehr gut kennen, was sich dann auf den letzten zwanzig Seiten in jedem Fall auszahlt, denn es wird nicht nur sehr rasant, sondern gleichzeitig auch ziemlich emotional - so emotional, dass es mir auf den letzten Seiten permanent einen Stich nach dem anderen gegeben und mir die Tränen in die Augen getrieben hat. Auch wenn das Buch stellenweise brutal ist und viele Todesopfer fordert, so ist es dennoch kein spannendes Abenteuer mit viel Action, sondern erzählt ruhig und emotional vom Leben auf Thisby...
... was es für mich aber nicht weniger spannend gemacht hat. Es ist wohl einfach die unsichtbare, knisternde Spannung, die es mir so leicht gemacht hat, zwischen den Seiten zu verschwinden. Der Fokus liegt hier eindeutig auf den Figuren, Gefühlen und der Menschlichkeit. Themen wie Mut, Ehre, Toleranz und Tradition spielen eine große Rolle, doch auch Freundschaft, Familie und Liebe kommen nicht zu kurz. Stiefvater hat es geschafft ein Buch zu schreiben, welches nicht nur ein einfacher Urban Fantasy Roman ist, sondern gleichzeitig Legende, Charakterroman und Abenteuer miteinander vereint und das auf eine so natürliche Art und Weise, als wäre all das nicht auf gestärktes Papier gedruckt, gebunden und verkauft worden. Was mir allerdings etwas gefehlt hat, war die Ursache und Begründung für das Skorpio-Rennen: Wo hat es angefangen und wieso? Was treibt Menschen dazu ihr Leben zu geben, außer dem Preisgeld? Übrigens: Es ist ein großer Vorteil, wenn man Pferde mag. Auch wenn man sie nicht mag, könnte einem das Buch gefallen, aber ich denke ein großer Teil der Magie könnte verloren gehen, wenn man so gar nichts für die gehuften Vierbeiner empfindet.
Wenn du am Strand stehst, irgendwann Ende Oktober, der Sturm die See wütend macht und du einen schrillen Schrei hörst, solltest du zusehen, dass du Land gewinnst, denn es könnte sich um ein Capaill Uisce handeln und einem solchen möchte man nicht über den Weg laufen. Wenn sich das Meer rotfärbt, ist es in Thisby wieder so weit für das Skorpio-Rennen und das verspricht eine Menge Gefahr, viel Trubel und vielleicht die ein oder andere überraschende Wendung. Stiefvater hat es jedenfalls geschafft eine abenteuerliche Geschichte so zu verpacken, als wäre sie eine echte Legende von einer echten Insel. Mit viel Magie, einem ganzen Haufen Pferde und vielen menschlichen Werten, erzählt sie eine Geschichte von Mut, Liebe, Toleranz und Selbstfindung, die von lauten leisen Tönen lebt. Wer Pferde mag und auch diese tiefe Sehnsucht für das Meer empfindet, sollte sofort in die nächste Buchhandlung rennen und "Rot wie das Meer" mit nach Hause nehmen. Ein weiteres Schmankerl ist übrigens die Tatsache, dass es sich hierbei um einen Einteiler handelt - was in diesem Fall ja fast schon wieder schade ist...


(c) Robert Severi

Maggie Stiefvater, geboren 1981, hatte glücklicherweise immer Schwierigkeiten, ihren Hang zu Tagträumereien und Selbstgesprächen mit ihren Jobs zu vereinbaren. Anstatt also als Kellnerin, Kalligraphielehrerin oder technische Redakteurin zu arbeiten, versuchte sie es mit der Kunst. Heute lebt die New York Times-Bestsellerautorin in den Bergen Virginias, ist verheiratet, hütet zwei kleine Kinder sowie zwei neurotische Hunde und hofiert eine verrückte Katze. [via Script5]
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Für die freundliche Bereitstellung des Rezensionsexemplares bedanke ich mich sehr herzlich bei


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