Der Wecker klingelt. Sie grübeln, starren an die Decke. Morgens aufzustehen fällt Ihnen immer schwerer. Während der Kaffee durch die Maschine gurgelt, wird Ihnen klar, wie sehr Sie Ihr Leben hassen.
Sie blicken, enttäuscht von sich selbst, in den Spiegel und in Ihnen flammt der alte Gedanke auf: „Morgen ändere ich alles!“ Dann atmen Sie tief durch, sagen sich, dass Sie sowieso nichts ändern können und schieben das innere Aufbegehren zur Seite. Schließlich klingelt der Wecker erst morgen früh wieder!
Die Freundschaft zur Misere
Wer wünscht sich das nicht – wild und gefährlich zu leben, voller Mut in die Zukunft zu springen. Allerdings gibt es viele Gründe (man nennt sie auch Ausreden), die uns Menschen davon abhalten, wirklich mutig zu sein. Der indische Philosoph Osho wusste das und hat ein unbequemes Buch über dieses Phänomen geschrieben.
Denn Millionen Menschen weltweit führen ihr Leben nicht, sie werden geführt. Menschen, die in Freiheit leben und eigentlich alle Chancen dieser Welt hätten, ihr Sein aktiv zu gestalten. Und doch verharren sie in den vertrauten Strukturen. Diese Vertrautheit – Osho nennt es ein „freundschaftliches Gefühl“ – zum Elend ist der größte Antrieb für Feigheit. Denn die ist das Gegenteil von Mut.
Osho vertritt die Überzeugung, dass wir lieber in vertrauten Gefilden bleiben, als uns in fremdes Terrain zu wagen. Es ist der ewige innere Konflikt, mit dem der Mensch konfrontiert wird: Einerseits sehnt er sich nach Sicherheit und Beständigkeit, andererseits ist das Leben unaufhörlich im Wandel. Also ist dieser Konflikt womöglich doch nicht ewig?
Vom Opfer zum freien Menschen
Mut ist nach Oshos Verständnis, der von seinen Anhängern auch Bhagwan genannt wurde, der Schlüssel zur Freiheit. Mut macht den Menschen über die Angst erhaben, er dehnt den Geist aus, anstatt ihn zu beschränken. Dabei ist es zweitrangig, ob das Unbekannte, was nach dem Vertrauten folgt, besser oder schlechter ist. Es geht allein um die Bereitschaft, mutig zu sein.
Es ist hilfreich, offen für das Unbekannte zu bleiben, da dies wie eine Art Vorbereitung auf den Tod wirkt. Diesen sieht Osho nicht als bedrohlich an. Im Kapitel Kein Anfang und kein Ende schreibt er:
„Beobachte einmal Menschen, wenn sie sterben. Sie leiden nicht am Tod. Im Tod liegt kein Schmerz, er ist absolut schmerzlos. Er ist sehr angenehm, wie ein tiefer Schlaf. Glaubt ihr, ein tiefer Schlaf sei etwas Schmerzhaftes?“
Osho spricht hier einen gravierenden Unterschied an: Die im Menschen sehr mächtige Angst vor dem Tod und den Tod selbst. Letzterer ist das Ende von allem, was uns bekannt ist. Und je mehr wir uns vor dem Unbekannten, vor dem Verlust des Bekannten also fürchten, umso mehr Furcht haben wir logischerweise vor dem Tod.
So ähnlich ist es mit der Angst eines Kindes vor der Dunkelheit. Die Furcht entsteht, weil nichts darin zu sehen ist. Das ist so verrückt wie einleuchtend. Verrückt deshalb, weil das, was wir fürchten, der Kontrollverlust ist. Nicht aber die Dunkelheit selbst.
Die Sache mit den Ängsten
Doch wir Menschen haben viele weitere Ängste, mit denen wir ringen, ganz nach dem Spruch von Ambrose Redmoon:
„Mut ist nicht die Abwesenheit der Angst, sondern die Erkenntnis, dass es etwas gibt, das wichtiger ist, als die Angst.“
Dieses Zitat geistert in zahlreichen unterschiedlichen Versionen durch das Internet, doch der Kern der Botschaft ist derselbe. Auch Osho formuliert ihn in Lebe wild und gefährlich:
„Mut ist nicht Furchtlosigkeit. Mut heißt, voller Angst zu sein, aber sich nicht von ihr beherrschen zu lassen.“
Dieses Zitat gefällt mir deutlich besser als das von Redmoon, der von einer Erkenntnis spricht. Denn eine Erkenntnis ist analytisch, verkopft. Osho hingegen spricht davon, voller Angst zu sein, von der man sich jedoch nicht beherrschen lässt. Das ist weitaus greifbarer und näher an der Realität. Ein Mensch, der massive Angst hat, kann noch so tolle Erkenntnisse auf rationaler Ebene machen – sie werden ihm nicht dabei helfen, diese Angst zu überwinden. Das kann nur der eigene Mut.
Kritik an Osho
Wie das mit geistigen Führern so ist, sind deren Lehren heftig umstritten und Anfeindungen ausgesetzt. Dieses Phänomen kennen die Weltreligionen nur zu gut. Doch wie so oft sollte man die Kritik genauer unter die Lupe nehmen. Denn wenn ein geistiger Führer die Menschen nicht in ihrem Ego erwischt, das sich daraufhin zur Wehr setzt, macht er etwas falsch.
In der medialen Reflexion kommen dann selten dämliche Schlagzeilen heraus, etwa: „Im Bann des Weißbarts“. Könnte auch der Titel eines Märchens der Gebrüder Grimm sein. Doch der Inhalt der Kritik ist nicht von der Hand zu weisen: Osho hat eine Sekte geschaffen, die Sannyasins, obwohl er dies früheren Angaben zufolge nicht vorhatte. Er kritisierte institutionalisierte Religionen, schuf dann aber selbst ein System mit Initiationsriten, festen Regeln und Geboten. Weltweit errichtete er Zentren für zahlende Mitglieder. Das klingt alles so gar nicht losgelöst von irdischen Absichten.
Auch von Kinderarbeit, Missbrauch und anderen demütigenden Vorkommnissen berichteten Augenzeugen immer wieder aus dem Umfeld der Osho-Bewegung. Und nicht zuletzt stört der selbstgefällige, überlegene Ton in seinem Buch derart, dass aus diesem Beitrag kein Lesetipp, sondern eine Rezension mit kritischen Aspekten wurde. Dass viele seiner Positionen und Praktiken unhaltbar waren, ändert jedoch wenig an Oshos treffenden Ausführungen zum Thema Mut.
Fazit
Wenn Sie das nächste Mal den Impuls verspüren, morgen alles zu ändern, überfordern Sie sich nicht, sondern werfen Sie einen Blick in dieses Buch. Die Welt gehört den Mutigen und dem stimmen sogar Oshos Kritiker zu.
OSHO: Mut. Lebe wild und gefährlich. Allegria, Berlin 2007, 224 S., 9,99 €
Autoreninfo: Osho, der als Rajneesh Chandra Mohan Jain in Indien geboren wurde, gilt als einer der bekanntesten und zugleich umstrittensten Philosophen der jüngeren Vergangenheit. Besonders negativ fiel dabei seine ablehende bzw. ausgrenzende Haltung gegenüber Homosexualität auf. Er gründete die sogenannte Bhagwan-Bewegung, eine spirituelle Gemeinschaft, die sich dem bewussten, von Meditation beeinflussten Leben verschrieben hat.