Rezension: „Lügenland“ (Gudrun Lerchbaum)

Rezension: „Lügenland“ (Gudrun Lerchbaum)
Die Soldation Mattea ist perfekt in jene Diktatur eingegliedert, zu der sich die einstige Bundesrepublik Österreich entwickelt hat. Doch am Tag vor ihrer Hochzeit ändert sich alles. Plötzlich wird Mattea zur Staatsfeindin und muss fliehen.

Gudrun Lerchbaums Polit-Thriller Lügenland wagt ein Szenario, das glasklar gezeichnet und nicht weit entfernt von Orwells 1984 zu sein scheint. Aber ist das tatsächlich so?

Digitaler Totalitarismus

Die herrschende Kaste der Aufrechten überwacht ihre Bürger lückenlos mit sogenannten Fonbändern, die alle wesentlichen Funktionen übernommen haben – Personalausweis und EC-Karte eingeschlossen. Wir erinnern uns: Auch in der aktuellen Zeit wird vielfach darüber diskutiert, Bargeld und sogar Karten abzuschaffen.

Überhaupt ist das Lügenland auf einem Stand der Technik, dem wir uns immer weiter annähern. Kameras sind nicht mehr nur (wie auf dem Cover zu sehen) an Laternenmasten geheftet, sie können auch als winzige Nanopartikel durch die Luft schwirren. Nachrichten aus dem Land empfängt Mattea über die Mediafolie, auf der das regierungsnahe Pamphlet erscheint.

Und auch in der Diktatur gehören soziale Netzwerke zum Alltag: Über Mindmine tauschen sich die Bürger im Rahmen ihrer Möglichkeiten aus.

Die Erscheinung der Macht

So modern diese Diktatur auch daherkommt, die alten Mechanismen der Macht ändert sie nicht. Macht setzen die meisten Menschen mit Herrschaft und Unterdrückung gleich. Das ist jedoch falsch, wie Foucault in seiner Schrift Dispositive der Macht zeigt. Er schreibt:

„Der Grund dafür, daß die Macht herrscht, daß man sie akzeptiert, liegt ganz einfach darin, daß sie nicht nur als neinsagende Gewalt auf uns lastet, sondern in Wirklichkeit die Körper durchdringt, Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert; man muß sie als ein produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper überzieht und nicht so sehr als negative Instanz, deren Funktion in der Unterdrückung besteht.“ (S. 35)

Und bei Byung-Chul Han heißt es in seinem Buch Was ist Macht?:

„Die Macht der Macht besteht ja gerade darin, daß sie auch ohne den ausdrücklichen »Befehl« Entscheidungen und Handlungen bewegen kann. Die Macht ist der Freiheit nicht entgegengesetzt. Es ist gerade die Freiheit, die die Macht von der Gewalt oder vom Zwang unterscheidet.“ (S. 18)

Freiheit und Macht widersprechen sich also nicht, genauso wenig im Übrigen wie Freiheit und Sicherheit. Denn das eigentlich stimmige Gegensatzpaar lautet Freiheit und Kontrolle. Es ist daher nicht schlüssig, wenn seitens der Politik davon gesprochen wird, dass es nur Freiheit oder Sicherheit geben könne. Denn Sicherheit kann auch in der Freiheit gedeihen. Kontrolle aber soll zu Sicherheit führen – mehr Überwachung, mehr Polizei, Einsätze der Armee im Inneren usw.

(K)eine Menschenkette

Freiheit und Frieden gehen nicht automatisch Hand in Hand. Um es mit den Worten Rousseaus zu sagen:

„Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern, dass er nicht tun muss, was er nicht will.“

Die weitestgehende Abwesenheit von Zwängen gestaltet unsere gesellschaftliche Freiheit. Sie bietet uns Räume, in denen wir an der Entwicklung unserer Persönlichkeit, unserer Talente, Fähigkeiten und Möglichkeiten nicht gehindert werden. Räume, in denen wir partizipieren und interagieren können, so lange wir nicht das Wohl Einzelner oder das der Allgemeinheit verletzen.

Freiheit = Sicherheit?

In der Kritik an zu viel Kontrolle sind wir uns schnell einig. Doch auch die totale Freiheit garantiert keine friedliche Koexistenz, im Gegenteil. Der naive Wunsch nach einer Welt ohne Anwälte hieße, eine Welt ohne wirksame Gesetze und deren Vertreter zu haben. Und auch die infantile Sehnsucht nach „Kindern an der Macht“ mag herzelnd sein, aber alles andere als kindlich genial. Und sie hält einer sachlichen Argumentation nicht im Geringsten stand. In einer Zeile des Songs heißt es bei Grönemeyer:

„Sie sind die wahren Anarchisten
lieben das Chaos räumen ab
kennen keine Rechte
keine Pflichten
noch ungebeugte Kraft
massenhaft
ungestümer Stolz.“

Doch ist diese unbeugsame Kraft nicht auch eine Eigenschaft von Diktatoren? Bringt nicht gerade deren ungestümer Stolz zusammen mit ungebeugter Kraft den Schrecken? Ist nicht die Missachtung von Rechten und Pflichten die Grundlage für entfesselte Grausamkeit?

Kinder mögen intuitiv handeln, doch zugleich auch impulsiv und ohne die Weitsicht Erwachsener, kurz-, mittel- und langfristige Konsequenzen ihrer Handlungen überblicken zu können.

Davon abgesehen sind Aggression und Gewalt auch Kindern nicht fremd: Auseinandersetzungen (teils Kämpfe) und Gruppenbildungen sind Verhaltensmuster, die aus gutem Grund regelmäßig Eingang in Jugendbücher finden. Bestseller wie William Goldings Herr der Fliegen oder Koushun Takamis Battle Royale zeigen dies.

Der Ameisenbau

Lügenland will den Überwachungsstaat veranschaulichen. Doch in die gleiche Sackgasse führte uns schon der unsägliche Roman Das geraubte Leben des Waisen Jun Do. Die implantierte Liebesgeschichte und der präzise Stil in Lerchbaums Thriller sollten uns nicht über die eigentliche Problematik hinwegtäuschen.

Die Kritik an der Totalität, an Unterdrückung, Folter und Krieg folgt einer Doppelmoral. In Wahrheit genießen wir als Leser das personifizierte Böse (der Kanzler) und seine Vasallen (die Aufrechten), von denen wir uns, in moralischer Überlegenheit wähnend, distanzieren können. Würden wir differenzierte Figuren vorgesetzt bekommen, von denen keine zu 100 % böse oder zu 100 % gut ist, verlören wir den voyeuristischen Blick und könnten plötzlich nicht mehr genießen, nicht mehr konsumieren.

Wir müssten uns selbst unbequeme Fragen stellen, wären gezwungen, die Menschen in den Vasallen und Herrschern zu sehen. Denn auch der grausamste Despot bleibt ein Mensch mit guten und schlechten Eigenschaften. Um kein Risiko einzugehen, bedient sich die Unterhaltung lieber klarer Schwarz-Weiß-Fronten ohne Graustufen. Auch Lügenland bildet hier keine Ausnahme.

Loverboy

Auf ihrer Flucht lernt Mattea einen Mann namens Tom kennen, der groß und muskulös ist, Extremsportler und sexy Barkeeper in einem, mit einem Retter-Gen und stattlichem Gemächt versehen. Dass es solche Abziehbilder in Romanen mit dieser Thematik noch braucht, zeigt das tatsächliche Problem. Denn unsere postmoderne Zeit ist auch eine postpolitische, hedonistische Ära.

Wir sind die Ameisen im geschlossenen Bau, nicht die von Willkür und Gewalt unterdrückten Figuren in Lügenland und ähnlichen Büchern. Wir leben längst als Schwarmintelligenz. Das funktioniert, gerade weil wir es nicht bemerken, die durch uns wirkende Macht nicht erkennen.

Eilige Entscheidungen

Die Vorratsdatenspeicherung wurde beschlossen, während wir Schlaaand geguckt haben. Unternehmen dürfen für den Handel mit Adressen auf Melderegister zugreifen, sofern die Bürger nicht widersprechen – eine Entscheidung, die ebenfalls während der Rotation des runden Leders getroffen wurde. Krankenkassenbeiträge werden kurz vor dem Anpfiff auch eben fix erhöht.

Partizipation am gesellschaftlichen Diskurs erfolgt hingegen in Kommentarspalten, alles andere ist zu anstrengend. Wir achten penibel darauf, was auf unseren Tellern landet, in welchem Land wir landen, ob Schnappschüsse online gut bei Freunden ankommen (Stichwort Oversharing) und starten eifrig Online-Petitionen.

Wir wollen Probleme bequem lösen, mit möglichst geringem Einsatz von der Couch aus. Auch Mattea wird erst eigenständig, als ihr persönliches Umfeld gänzlich zusammenbricht. Und im Grunde ist der Kanzler in Lügenland der radikale Problemlöser schlechthin. Ganz so, wie nach ihm in den Kommentarspalten verlangt wird.

Fazit

Lügenland verrät mehr über unsere Gegenwart als über eine fiktionale Zukunft. Wir dürfen trotz der Genre-Bezeichnung nicht vergessen, dass wir uns hier im Unterhaltungsbereich befinden und so kann die Kritik an Macht und Diktatur keine echte sein. Die Macht ist immer da und hat sich in Form von Diktaten längst in unseren Köpfen manifestiert. Die wahre Freiheit besteht also darin, diese Diktate und die ihnen zuarbeitenden Konzepte zu entlarven.


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