Rezension: Leonardo Padura – Ketzer (Unionsverlag, 2014)

“Ketzer”, der Roman des kubanischen Autors Leonardo Padura (*1955) vereint die politische Geschichte, Kunstgeschichte, jüdische Geschichte und die Tücken der Gegenwart zu einer die Jahrhunderte durchquerenden Detektivgeschichte von gewaltiger Kraft. Dreh- und Angelpunkt des Geschehens: ein Christusportrait des niederländischen Malers Rembrandt – und die Frage, wie viel Ketzerei nötig ist, wenn einer “das natürliche Bedürfnis nach der eigenen Freiheit ausleben will”. Ein grosser Roman, im eigentlichen Wortsinne Welt-Literatur.

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Titel: Ketzer
Original: Herejes (2013)
Autor: Leonardo Padura
Übersetzung: Hans-Joachim Hartstein
Verlag: Unionsverlag
ISBN: 3-293-00469-5
Umfang: 656 Seiten, gebunden m. Schutzumschlag

Erzählerischer Ausgangspunkt des Romans ist die Ankunft der MS St. Louis im Hafen von Havanna im Mai 1939. An Bord befinden sich mehr als 900 europäische jüdische Flüchtlinge, die vom NS-Regime Visas zur Ausreise erhalten haben. Vieles läuft schief, unterliegt der Korruption, sodass das Schiff schliesslich zum umkehren gezwungen wird und seine Insassen damit in den fast sicheren europäischen Tod schickt. Padura nimmt hier ein erstes Mal ein historisches Ereignis und bestückt es mit fiktionalen Figuren. Diese sind: der Junge Daniel Kaminsky und sein Onkel Joseph, die in Havanna leben und auf die Ankunft von Daniels Eltern, seiner Schwester warten, die sich an Bord des Schiffes befinden. Im Gepäck haben sie ein Christusportrait von Rembrandt, die”Familienreliquie”, die sich seit mehreren Jahrhunderten im Besitz der Kaminskys befindet.

Sprung ins Havanna des Jahres 2007: Mario Conde, Buchantiquar gewordener Ex-Polizist und bereits Protagonist früherer Padura-Bücher, erhält unerwarteten Besuch vom Maler Elias Kaminsky aus Miami, Daniels Sohn. Der Rembrandt, der offenbar 1939 auf verschlungenen Wegen doch nach Kuba gekommen ist, wurde in London auf einer Auktion angeboten. Elias will einerseits das Gemälde “in den Schoss der Familie zurückbringen”, Gerechtigkeit, andererseits die Wahrheit über seinen Vater erfahren, wissen, ob dieser etwas mit einem Mord zu tun hatte, der in Havanna 1958 verübt wurde: Wochen bevor Daniel in die USA flüchtete. Dazu bittet er um Condes Mithilfe. Das Detektivspiel nimmt seinen Lauf.

Diese Ereignisse sind unter dem Titel “Das Buch Daniel” zusammengefasst. Der Fokus liegt, dem Titel gerecht werdend, auf der Figur von Daniel Kaminsky, seinem Kampf mit dem jüdischen Glauben, der Doppelexistenz zwischen karikierter Frömmigkeit und der Welt zugewandtem Hedonismus. Onkel Joseph nennt ihn einen Ketzer.

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Rembrandt: “Ein Christus nach dem Leben” (1648)

Szenenwechsel: “Das Buch Elias”. Hierbei handelt es sich nicht etwa um Elias Kaminsky, sondern um Elias Ambrosius, einen jüdischen Jugendlichen im Amsterdam der 1640er-Jahre, der alles aufzugeben bereit ist, um Maler zu werden wie sein Vorbild Meister Rembrandt. Auch er ist gefangen im Zwiespalt zwischen der Tradition seiner Religion und der unbedingten Freiheit. Er sitzt Modell für ein Christusporträt, das Rembrandt anfertigt – und verstösst damit gegen ein Gebot des Heiligen Gesetzes seiner Religion. Im Angesicht des Verstosses aus seiner Gemeinschaft flieht er.

 

“Das Buch Judith” schliesslich kehrt in die kubanische Gegenwart zurück, kaum ein Jahr nachdem Elias Kaminsky Conde aufgesucht hat. Yadine, Enkelin von Ricardo Kaminsky, derselbst Adoptivsohn von Onkel Joseph, taucht vor Mario Condes Tür auf und berichtet ihm vom Verschwinden ihrer Freundin Judy. Sie brauche Hilfe bei der Suche. Conde, der seinen detektivischen Instinkt nicht verloren hat, stimmt zu und begibt sich ins Umfeld dieser Jugendlichen, die der Subkultur der sogenannten Emos angehören: düster gekleidete und geschminkte junge Leute, die es “schmerzt, in einer Scheisswelt zu leben”, weshalb sie nichts mit ihr zu tun haben wollen. Gemeinsam mit einer Menge anderer subkulturellen Gruppen sitzen sie auf den Grünflächen, Bänken und Randsteinen des ehemaligen aristokratischen Boulevards Calle G. Eine neue Welt für Conde, der in diesen Jugendlichen “die sichtbarste und auffälligste Spitze eines Eisbergs einer neuen Generation von Ketzern” erkennt.

Das Verschwinden Judys weitet sich bald zu einem handfesten Kriminalfall aus – und plötzlich erinnert sich Conde wieder an die polnischen Kaminskys, den Mord in den Fünfzigern, die Ankunft und Rückkehr des Schiffes in den Dreissigern, den verschollenen und unter mysteriösen Umständen wieder aufgetauchten Rembrandt… und die Fäden beginnen zusammenzulaufen…

Leonardo Padura versteht es meisterhaft historische Realität und Fiktion miteinander zu verbinden. In den Geschichten seiner Figuren spiegeln sich Ereignisse der Weltgeschichte, die Padura penibel recherchiert hat, wie sein ausführliches Nachwort über die Entstehung des Werks offenlegt. Er nutzt den verzweigten, hervorragend durchdachten Plot, um jüdische Geschichte – das kurze letzte Buch “Genesis” handelt von der Judenverfolgung im Osteuropa des 17. Jahrhunderts, wo Elias Ambrosius in ständiger Todesangst seinem Meister einen Brief schrieb – durch die Jahrhunderte aufzuarbeiten. Daneben nimmt er sich aber auch Zeit für die Realität der gegenwärtigen kubanischen Gesellschaft, für die kubanische Poltik des 20. Jahrhunderts oder für die niederländische Politik und Gesellschaft des 17. Jahrhunderts.

Eindrücklich führt Padura die Gemeinsamkeit vor Augen, die all diesen Figuren quer durch die Jahrhunderte innewohnt: die Frage eben, wie viel Ketzerei nötig ist, um das Bedürfnis nach persönlicher Freiheit ausleben zu können. Der Bogen spannt sich von der Räumung und Zwangsversteigerung von Rembrandts Haushalt 1656 bis zum Aufsatz des verschwundenen Mädchens Judy, in dem es heisst: “Wenn ein Land oder ein System dir nicht erlaubt, frei zu wählen, wo du leben und wohnen willst, ist es gescheitert. Erzwungene Treue bedeutet Scheitern.”

Dem kubanischen Autor ist mit “Ketzer” ein geradezu monumentales Werk gelungen, dem man das Herzblut und die Hingabe, die darauf verwendet wurden, in jeder Zeile anmerkt. Stilistisch  und formal ist das souverän, der Spannungsaufbau lässt Paduras Gespür für Detektivgeschichten erkennen, der Plot ist weit verzweigt, detailreich ausgeschmückt, zeugt von tiefer Kenntnis der beschriebenen historischen Realitäten und ist nahezu perfekt durchdacht. Eine faszinierende Reise durch Raum und Zeit, deren Antritt mit dem Genuss von Welt-Literatur belohnt wird.


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