Rezension: Kamila Shamsie – Die Strasse der Geschichtenerzähler (Berlin-Verlag, 2015)

Vom antiken Griechenland über den Ersten Weltkrieg bis zum indischen Unabhängigkeitskampf: Die pakistanische Autorin Kamila Shamsie verwebt in ihrem Roman “Die Strasse der Geschichtenerzähler” eine enorme Bandbreite historischer Geschehnisse zu einem feinfühligen, wenn auch bisweilen gar etwas zu ambitionierten Panorama von Liebe, Gewalt, Verrat und Zugehörigkeit.
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Zu Beginn steht ein Vorspann, der zurückführt ins Jahr 515 vor Christus: Der griechische Geograph Skylax  sitzt auf einem Hügel, dreht seinen kunstvoll gefertigten silbernen Stirnreif in den Händen und blickt hinab auf’s Wasser, auf die Schiffe, mit denen er in Kürze aufbrechen wird, um als erster Mensch überhaupt den Fluss Indus zu erkunden, vorzudringen in eine bislang unbekannte Welt.

Im ersten Hauptteil begegnen wir der jungen britischen Archäologin Vivian Rose Spencer, die sich im Jahr 1914 an der Ausgrabungsstätte im türkischen Labraunda – Skylax’ Geburtsort – befindet. Sie erlebt eine Zeit unbeschreiblicher Freiheit, prickelnder neuer Erfahrungen und zwischenmenschlicher Glücksmomente. In ihr erwacht die Liebe zu Tahsin Bey, einem Freund ihres Vaters, den sie seit frühester Kindheit kennt und der in ihr das Interesse an der Archäologie geweckt hatte. Er ist überzeugt davon, eines Tages den Stirnreif des Skylax bergen zu können.

Doch nur allzu bald endet die lustvolle Zeit der Entdeckungen: Aus dem Westen dringen Nachrichten vom Kriegsausbruch nach Labraunda, die Expedition löst sich auf, Tahsins und Vivians Wege trennen sich – mit dem Versprechen, dass nach dem Krieg ihre Zeit kommen würde. Doch dieses Glück soll ihnen nicht vergönnt sein…

Vivian reist zurück nach England, meldet sich als Freiwillige Krankenschwester, nutzt aber die nächste Gelegenheit, um wieder in den Osten zu reisen. Alleine reist sie 1915 nach Peschawar, wo sie auf die Möglichkeit von Grabungen in Shah-Ji-Ki-Deri hofft, wo Tahsin Bey den sagenhaften Stirnreif des Skylax vermutete.  Als selbstbestimmte Frau und Angehörige der kolonialen Machthaber findet sie hier nicht nur Freunde.

Als weitere Protagonisten treten hier die paschtunischen Brüder Qayyum un Najeeb Gul auf. Qayyum, der ältere, ist Rückkehrer aus Ypern, wo er auf britischer Seite gekämpft und dabei ein Auge verloren hat. Najeeb hingegen ist ein zwölfjähriger Junge, der zufällig Vivians Bekanntschaft macht und sich in der Folge von ihr in klassischer Altertumskunde unterrichten lässt – zum Unmut seines Bruders Qayyum, der den Heranwachsenden vor dem weiblichen Geschlecht zu schützen sucht.

Im Folgenden entwickelt sich die Geschichte vornehmlich im Spannungsfeld dieser drei Figuren. Brüderliche Liebe, paschtunische Tradition und britisches Selbstverständnis, jugendliche Wissbegier und weibliche Emanzipation sind unter anderem die Themen, die Kamila Shamsie in dieser Konstellation umkreist. Vivian, Najeeb und Qayyum sind dankbar, genau durchdachte Figuren, an denen sich aufgrund ihrer charakterlichen Merkmale die bedeutsamsten politischen, religiösen und sozialen Konflikte der Zeit ausgezeichnet darstellen lassen.

Nach einer erneuten Rückkehr Vivians in die Heimat werden im letzten Teil des Buches die Fäden im Jahr 1928 wieder aufgenommen. Najeeb, der inzwischen selbst Archäologe ist – Vivian war für ihn, was Tahsin einst für sie gewesen ist -, lädt seine ehemalige Mentorin erneut nach Peschawar ein, wo er als “Indian Assistant” im Museum arbeitet. Sein Bruder Qayyum hingegen ist inzwischen der Sache Gandhis beigetreten und unterstützt den unbewaffneten Widerstand unter Ghaffar Khan. Die geschilderten Ereignisse entwickeln sich in diesem Teil vor allem rund um das sogenannte Massaker am Qissa-Khwani-Bazar (das ist die titelgebende “Strasse der Geschichtenerzähler”) im April 1930, während die Leben der Protagonisten in Gefahr geraten und sie auf harte Proben gestellt werden.

Kamila Shamsie (*1973) hat mit “Die Strasse der Geschichtenerzähler” ein dichtes, sinnliches Werk geschaffen, das historische Ereignisse geschickt in feinfühlig erzählte menschliche Lebensgeschichten einbindet. Obwohl manches nur angedeutet und somit der eigenen Recherche überlassen bleibt, und obwohl einige Details – wie der Kritiker des Guardian anmerkte –  nicht vollkommen korrekt wiedergegeben sind, gelingt es dem Text hervorragend, historische Belehrung, existenzielle menschliche Sinnfragen und spannende Unterhaltung in sich zu vereinen.

Zwar ist manches zu einem Randdasein verdammt – etwa die Geschichte der Armenier während des Ersten Weltkriegs, die im Erzählstrang um Tahsin Bey lediglich vage angedeutet bleibt -, was den Vorwurf entstehen lassen könnte, Shamsie habe sich etwas gar zu viele Themen aufgebürdet. Letztlich aber wiegt dies nicht so schwer, sind doch die positiven Qualitäten des Textes gewichtiger:

Shamsies Umgang mit dem zentralen Motiv des Stirnreifs – seine Herkunft, seine Geschichte, die damit verbundenen Assoziationen und die durch ihn geweckten Begehrlichkeiten, seine Gegenwart und seine Zukunft – sind der beste Beweis dafür, dass wir es hier mit einer Autorin zu tun haben, die über überlegene dramaturgische Qualitäten verfügt und mit diesen einen gelungenen historischen Roman schaffen konnte, der lange nachhallt.

Shamsie, Kamila. Die Strasse der Geschichtenerzähler. Aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer. Berlin: Berlin-Verlag 2015. 384 S., gebunden m. Schutzumschlag. 978-3-8270-7800-1


Zur Recherche hat die Autorin eine Website zur Verfügung gestellt, die Schauplätze und Geschichten aus dem Buch veranschaulicht und einige Hintergründe erläutert. “A God In Every Stone” – nach dem englischen Originaltitel des Romans – ist ein angenehmer und hilfreicher Lektürebegleiter.


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