Rezension: Catherine Safonoff – Der Bergmann und der Kanarienvogel (Rotpunkt 2015 [2012])

Ein Buch schreiben über das Buch, das man schreibt: Diese kompromisslose Selbstreflexivität liesse sich schnell als Einfallslosigkeit abtun. Doch machte man es sich damit etwas gar leicht. Auch bei Catherine Safonoffs autobiographischem Zeugnis “Der Bergmann und der Kanarienvogel” lohnt der Blick hinter die Fassaden dessen, was offensichtlich scheint. 

rotpunt

“Der Bergmann und der Kanarienvogel”: Das sind 81 Kapitel auf gerade einmal 173 Seiten. 81 Kapitel, in denen eine über siebzigjährige Frau, die wir bedenkenlos mit der Autorin (*1939) gleichsetzen dürfen, davon erzählt, wie sie eine Psychotherapie beginnt, sich in den Therapeuten verliebt und darüber ein Buch schreibt – eben dieses Buch, “Der Bergmann und der Kanarienvogel”.

Bergmänner, so wird gesagt, haben früher Kanarienvögel mit in die Dunkelheit unter Tag genommen, weil diese besonders stark auf Luftveränderungen reagieren. Hat es irgendwo zu wenig Sauerstoff, kippen sie von der Stange: für den Bergmann das Zeichen, die Rückkehr anzutreten. In ihrem Text begibt sich die vielfach preisgekrönte Genfer Autorin Catherine Safonoff in das Bergwerk ihres eigenen Ichs, ihrer Hoffnungen, Wünsche, Begehrlichkeiten und ihrer Vergangenheit. Und wer ist ihr Kanarienvogel, der sie davor beschützt, sich gänzlich in diesem Höhlensystem der Selbstbetrachtung zu verlieren?

Die Therapiesitzungen bei Doktor Ursus, in den sich die Erzählerin verliebt hat, bilden den roten Faden des Textes. Dazwischen während alltägliche Begebenheiten erzählt, Lektüren verarbeitet oder Rückblenden in die Vergangenheit unternommen. Die Depression, wegen der sie sich ursprünglich in die Behandlung begeben hat, ist stets präsent. Der Tonfall ist verdriesslich, überall schwingen Ängste mit: die Angst vor dem dem Altern, dem Alter, dem Altsein, die Angst vor dem Nicht-mehr-begehrt-werden, die ewige und grösste Angst vor dem Verlassenwerden.

Rettung scheint nicht in Sicht. Es fallen Sätze wie: “Ich nannte mich wenigstens Frau, ich hatte auf jeden Fall die Definition meines Geschlechts. Das ist vorbei, ich bin alt, erledigt.” Einzig und alleine das Schreiben ist es, das Abhilfe schafft, einen Ausweg darzustellen scheint aus diesem unerbittlichen Strudel von Vergänglichkeitsbewusstsein, Angst und Frustration. Sie schreibt: “Das Schreiben ist die einzige Tätigkeit, die es mir erlaubt, nicht an etwas anderes zu denken.”

Somit ist “Der Bergmann und der Kanarienvogel” auch das Zeugnis eines Überlebenswillens. Schreiben als letzter, als einziger Weg, dem Leben zu trotzen, in ihm bestehen zu können: Es wäre vermessen, eine solcherart entstandene Selbstreflexivität als Einfallslosigkeit abzutun.

Die bisweilen schonungslose Selbstkritik, die kleinen Lichtblitze feinen Humors und die interessanten Gedanken zu verschiedenen Lektüren (u.a. Kafka, Pascal Quignard, Virginia Woolf, Nicolas Bouvier) machen “Der Bergmann und der Kanarienvogel” allemal lesenswert. Für mich jedoch vermögen auch diese Elemente nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die Umtriebigkeit der Erzählerin, die Momente, in denen die Selbstkritik in Weinerlichkeit kippt, und die omnipräsente sexuelle Frustration sich negativ auf die Lektüre auswirken. Gerade bezüglich letzterer treibt Safonoffs Prosa manchmal seltsame Blüten. Zum Beispiel: “Ein Schriftsteller kann sich von dem distanzieren, was er schreibt: Diese Distanz ist schon durch die Biologie gegeben, durch sein Glied, das ausserhalb des Körpers hängt. Diese Distanz kann eine Frau nur wahren, wenn sie sich beim Schreiben ganz und gar hingibt. Ein authentisch weibliches schreiben besteht aus ihren Säften, ihrem Blut.”

Im Jahr seines ursprünglichen Erscheinens, 2012, wurde “Le mineur et le canari” mit dem Eidgenössischen Literaturpreis geehrt. Eine hohe Ehre für ein autobiographisches Zeugnis, das zwar in seinen besten Momenten mit kompromissloser Ehrlichkeit und klarem Blick für die kleinen Imperfektionen des Lebens beeindruckt, in seinen schlechtesten Momenten aber wie die Tirade einer frustrierten Frau anmutet, die mit ihrem Alter, ihrem Geschlecht und ihren Mitmenschen nicht mehr klarkommt.

Safonoff, Catherine. Der Bergmann und der Kanarienvogel. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Zürich: Rotpunkt 2015. 176 S., Leinen. 9783858696434


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